: Ein Elementarteilchen für die Zukunft
Vor wenigen Wochen starb der Autor und Filmemacher Christian Geissler, dessen ideologischer Weg vom Katholizismus bis zum Kommunismus reichte und der sich auch literarisch nie einordnen ließ. Sein Verleger Lutz Schulenburg erinnert sich
Das Erste, was mir, als ich vom Tod Christian Geisslers erfuhr, in den Sinn kam, war eine Erinnerungssequenz, die sich wie das Standbild eines Films einstellte: eine schlanke Gestalt im Tweed-Jacket, lässig zurückgelehnt, aus dem Manuskript des damals noch nicht veröffentlichten Romans „Kamalatta“ lesend – im schönsten Hamburger Sound. Über die weit nach vorne geschobene Brille blickte der Lesende zwischen einzelnen Absätzen manchmal in die Runde. Fragend, der Wirkung seiner Worte nachspürend. Diese erwartungsvolle Aufmerksamkeit hat mich für ihn eingenommen.
Christian Geissler war einer der wenigen Menschen, die ich kenne, die anderen gegenüber wirklich aufmerksam waren. Er stellte Fragen, um Antworten zu hören. Er suchte nach Gemeinsamkeiten, nicht nach bloßer Zustimmung; ihm war der Widerspruch wichtig. Man konnte den Eindruck haben, dass seine Romane deshalb von widerspruchsvollen Figuren wimmeln, weil er Lust auf Menschen hatte, die vom Lernen und nicht von Gewissheiten geprägt werden. Das war sein gelebtes kommunistisches Ethos: Kommunismus als Gegensatz zu Einsamkeit. Christian Geisslers Aufmerksamkeit war eine unerlässliche Voraussetzung, um der falschen Vergemeinschaftung zu entgehen. Für ihn hatte der isolierte Mensch, der lebensgehemmte Mensch, den die kapitalistische Gesellschaft formt, eine „Totmacher“-Mentalität.
In einem Interview mit Klaus Mellenthin sagte Christian Geissler rückblickend: „Es gab – speziell in Deutschland – Jahre von besonderer Zerstörungskraft; Jahre von besonderem Lernen für jeden, der in dieser Zeit gelebt hat. Ich habe bis 1943, damals war ich 14, nichts begriffen von dem, wo ich gelebt habe. Ich bin den Befehlen gefolgt, die man mir gegeben hat. Ich bin ein kleines Kerlchen gewesen, das überall mitgesprungen ist oder mitgeschwommen wie alle anderen auch. Was habe ich denn gelernt in dieser Zeit? Ja, Widersprüche doch. Meine Mutter kam aus Polen, und in unserer Verwandtschaft waren Juden. Und in der ganzen Gegend wurde gesagt, das seien Verbrecher und Untermenschen. Das waren sie ja nun für mich nicht. Kurz: Das ist ja auch ein Stück Lernen aus Erfahrung – sie lügen, sie schreiben mir Scheiße ins Schulbuch.“ Später, nach 1945, war es die Gestalt des Kommunisten, des Widerstehenden, die ihm einen Ausweg bot, das Todes-Zeichen der Nazi-Epoche von sich selbst abzuwaschen.
Der Weg vom Flakhelfer über den linkskatholischen Kreis zur illegalen KPD und von da zu einem Verständnis des bewaffneten Kampfes in Westeuropa ist nicht gradlinig. Und zwischen diesen Fixpunkten der politischen Orientierung war er auch ein Mensch des Alltags: Ehemann, Vater, Liebhaber, Schriftsteller, Filmer.
Wie jeder guter Schriftsteller ist auch Christian Geissler schwer mit anderen Autoren vergleichbar. Sein Schreiben, seine Bücher sind einzigartig in der deutschen Nachkriegsliteratur. Nicht etwa, weil er politisch war, sondern weil er sich nicht mit der ideologischen Oberfläche begnügt hat.
Schreiben und Leben gehören, wie Atmen und Lächeln, bei ihm zusammen. Der Ton und die Form, die Musikalität und emotionale Wucht seines Stils, seine stets differenzierten Figuren und das Hineinfluten des Geschichtlichen in seine Romane verleihen seinem Werk besondere Bedeutung.
Über seine Erfahrung als Schriftsteller sagt Geissler in dem bereits zitierten Interview: „Mir erschien das Bücherschreiben, die Prosaarbeit immer wichtiger als das Filmemachen, prinzipiell als mein Mittel. Nicht etwa als politisch wirksamer; es schien mir eigenartiger. Ich habe mich für Jahre verzogen für ,Kamalatta‘. Leben konnte ich davon nicht. Da habe ich mir aber gesagt, jetzt machst du nur noch, was du für richtig hältst, lebst von ganz, ganz wenig Geld... und verdienst nur so viel wie unbedingt nötig neben der Romanarbeit oder Dichtung. Ich will meine gezählten Tage mit Arbeit nicht nur beenden, sondern vor allem auch füllen.“ Als Mensch und Schriftsteller bleibt Christian Geissler, weil er unversöhnlich war gegenüber Verhältnissen, in denen Freiheit, Schönheit und Würde zum Verschwinden gebracht werden, ein Elementarteilchen der Zukunft. LUTZ SCHULENBURG
Am 5. 10. beginnt das Hamburger Metropolis Kino mit Egon Monks „Anfrage“ eine Reihe mit Filmen, zu denen Geissler Romanvorlage oder Drehbuch lieferte. Am 14. + 15. 10. folgt Monks „Schlachtvieh“, am 18. + 20. 10., sein „Wilhelmsburger Freitag“. Am 6. 10. veranstaltet das Hamburger Polittbüro einen Gedenkabend zum Werk Christian Geisslers mit Thomas Ebermann, Knarf Rellöm, Michael Weber und Wolfgang Hartmann.
LUTZ SCHULENBURG, 55, leitet seit 35 Jahren gemeinsam mit Hanna Mittelstädt die Hamburger Edition Nautilus, die als einziger Verlag noch essayistische Texte Christian Geisslers im Programm hat.