Kassandra sieht schwarzgelb

Borussia Dortmunds Trainer Matthias Sammer geht nach der 1:2-Niederlage des Meisters bei Hertha BSC hart mit seinen säumigen Spielern ins Gericht, während die Berliner zaghaft nach oben blicken

aus Berlin MATTI LIESKE

Manchmal erinnert Matthias Sammer, auch wenn er es vielleicht nicht gern hört, ganz frappierend an Franz Beckenbauer, den Teamchef. Auch jener kochte häufig vor Wut, wenn seine Mannschaft gewonnen hatte, wirkte aber oft geradezu glücklich und zufrieden, wenn sie eine Niederlage kassierte. „Ich fahre mit Magenschmerzen nach Hause“, sagte der Trainer von Borussia Dortmund nach dem 1:2 bei Hertha BSC, schaute dabei aber gar nicht aus wie einer, dem sein Verdauungsapparat Pein bereitet. Vielmehr schien er von einer seltsamen Art grimmiger Freude erfüllt. Der ehemalige Spieler Sammer weiß eben genau, dass bei seinen Profis der Schock einer Niederlage in letzter Sekunde mehr fruchtet als hundert Trainerpredigten, in denen mehr Konzentration und Ernsthaftigkeit gefordert wird. Wochenlang hatte der BVB-Coach gegen die ihm verhasste Spaßgesellschaft beim deutschen Meister geeifert, die Genugtuung darüber, Recht behalten zu haben, konnte er nun nicht vollständig verbergen.

„Ich weiß nicht, ob wir noch in Abstiegsgefahr geraten können“, hämte Sammer genüsslich, „aber wenn wir weiter solche Fehler machen, brauchen wir über Meisterschaft nicht zu diskutieren, dann spielen wir um Platz zehn oder zwölf.“ Beide Gegentore seien gefallen, weil „die elementarsten Dinge – mit Zurücklaufen nämlich“ – nicht funktionierten. „Wenn wir zum Schluss etwas abgeklärter sind, schießen wir Hertha ab“, behauptete Sammer, was angesichts des zahmen Auftritts seiner Mannschaft recht kühn klang.

„Würden keine Fehler passieren, endete jedes Spiel 0:0“, wusste einst schon der alte Fußballweise Dietrich Weise, weshalb Herthas Huub Stevens die Einschätzuung des Dortmunder Kollegen auch nicht teilen wollte. Patzer, wie Amorosos Fehlpass an der Mittellinie kurz vor Ende, sind eine Sache, man muss diese aber auch erzwingen und ausnutzen. Hertha tat das mit einer deutlichen Temposteigerung in der zweiten Halbzeit, die einige Torchancen und zwei wunderbar herausgespielte Treffer brachte. Jedesmal kombinierten sich die Berliner dabei in Hochgeschwindigkeit bis zur Grundlinie durch und schafften es, mindestens einen Spieler in den Rücken der desorientierten BVB-Abwehr zu mogeln. Das ist hohe Fußballkunst, und Stevens durfte entsprechend stolz sein. „Unsere defensive Leistung war sehr gut, aber in der zweiten Halbzeit haben wir auch gut nach vorn gespielt“, lobte der Niederländer.

Dass Stevens zuletzt so etwas sagen konnte, ist lange her, schließlich hatte seine mit großen Ambitionen in die Saison gestartete Mannschaft aus den vier Spielen vor der Winterpause nur einen Punkt geholt und vor allem im Angriff enttäuscht. Die Dortmunder kamen den Herthanern allerdings auch entgegen, indem sie sich weit zurückzogen, nur auf ihre bewährt gefährlichen Konter vertrauten und so dem Gegner die dringend benötigte Luft zum Atmen ließen. Eine fragwürdige Taktik für einen Titelaspiranten, denn Schwierigkeiten hatten die Berliner zuletzt vor allem gehabt, wenn sie unter Druck gesetzt wurden – wie von Werder Bremen oder dem VfL Wolfsburg, die im Olympiastadion gewonnen bzw. gepunktet hatten.

„Die Meisterschaft wird nicht am 18. Spieltag entschieden“, grummelte Matthias Sammer und meinte damit, dass seine Mannschaft das Unentschieden beim Tabellenachten – „obwohl kein optimales Ergebnis“ – unbedingt hätte sichern müssen. Zumal sich dieser Tabellenachte eigentlich ganz woanders einordnet und dank des Treffers von Marcelinho in der 90. Minute wieder vom Vorstoß in die oberen, europacupträchtigen Ränge träumt. „Dieser Sieg gibt der Mannschaft einen Push für die nächsten Wochen“, ist Hertha-Manager Dieter Hoeneß überzeugt, „es ist wichtig, wenn man spürt, dass man auch belohnt wird“.

Gut möglich also, dass vielleicht nicht die Meisterschaft, aber doch die weitere Saisonperspektive beider Teams an diesem 18. Spieltag entschieden wurde. Hertha hat nicht nur die Moral aufgefrischt, sondern diese drei Punkte dringlichst gebraucht, um nicht völlig im Mittelmaß zu versacken. Bei den Dortmundern werden Sammers Kassandra-Rufe fürderhin zwar auf etwas offenere Ohren treffen, doch ob das reicht, um das Kunststück vom letzten Jahr zu wiederholen, scheint fraglich. „Die Meisterschaft interessiert mich im Moment überhaupt nicht“, erklärte Sammer in Berlin. Vieles deutet darauf hin, dass dieses Desinteresse bis zum Saisonende Bestand haben könnte.

Hertha BSC: Kiraly - Friedrich, Rehmer, Simunic, Hartmann - Karwan, Dardai, Marcelinho, Goor - Alves (90. Marx), Luizao (71. Preetz)Borussia Dortmund: Lehmann - Evanilson, Wörns, Metzelder, Dede (71. Amoroso) - Reuter, Frings (73. Kehl), Heinrich - Rosicky - Ewerthon, KollerZuschauer: 50.547; Tore: 1:0 Dardai (69.), 1:1 Koller (80.), 2:1 Marcelinho (90.)