Bei Hitchcocks zu Hause

Unter Vermeidung soziologischer Steifheiten: Die Ausstellung „Vereinsstraße 54 – Fundstücke aus dem Hinterhaus“ im Museum der Arbeit beleuchtet Facetten von 60 Jahren Hinterhofleben

von CHRISTIAN T. SCHÖN

Eine Ausstellung wie vom Flohmarkt. Ein Porzellanservice mit Goldrand. Ein eierschalenfarbenes Badezimmerschränkchen. Eine bauchige Bowle-Schale mit Gläsern. Gesammelter Hausrat aus einer scheinbar anderen Zeit. Die Fundstücke aus einem Hinterhaus, so der Titel der Sonderausstellung im Museum der Arbeit, stammen aus dem Haushalt von Meta Petersen, bis vor kurzem wohnhaft in der Vereinsstraße 54, Schanzenviertel, mittlerweile in ein Seniorenheim umgezogen. Über 60 Jahre lang hat sie dort in einem Terrassenhaus gewohnt. Anstatt den Kram auf einem „Antik“-Markt zu verscherbeln, überließ sie dem Museum ihren Hausrat.

In der braunen Aktentasche nahm ihr Ehegatte sein Brot zur Arbeit auf die Werft. In den Emailletöpfen ihrer Mutter kochte sie die kleine Handwäsche. Mit der Kamera „Agfa Billy Clack“ hielten sie den ersten Urlaub in Heide und Harz fest. Im Gepäck waren auch das fesche Reisebügeleisen und die zusammenfaltbaren Kleiderbügel. Und „wenn wir Lust hatten, schön zu essen, dann hatten wir das Goldrandgeschirr genommen und im Wohnzimmer gegessen“, wird Meta Petersen zitiert. Ein Glanzpunkt der Petersen‘schen Alltagskultur ist die abgewetzte Badebürste, mit der Meta Petersen 20 Jahre lang den Grabstein ihres Mannes pflegte.

In den schlichen Glasvitrinen scheinen die blank geputzten Weingläser, Saucieren, Schüsseln, Wassertöpfe und Emailletöpfe zu schweben. Sorgsam ausgewählt und minimalistisch gewählt, öffnet die Ausstellung Facetten auf 60 Jahre Leben, illustriert zwei unauffällige Biographien: 1938 heiraten Meta und Walter Petersen – sie Köchin, er Werftarbeiter. Nach 1947 bleibt sie zu Hause, kümmert sich um Sohn und Haushalt: „Vormittags wurde die grobe Arbeit gemacht: scheuern, feudeln, putzen. Nachmittags dann die feine, das war bei mir das Häkeln und das Stricken.“ Walter arbeitete bis 1967 und starb 1977 an einem Lungenleiden.

Geschickt werden hier Kunstkontexte genutzt, um soziologische Steifheit und bürgerlichen Mief zu vermeiden. Küche, Bad und „gute Stube“ werden nicht atmosphärisch rekonstruiert. Wie zur ironischen Überspitzung etwa sind Vitrinentürme auf graue Sockel gehoben. Und die sorgsam gefalteten, farblich abgestimmten Handtücher erinnern an den humorvollen Künstler Andreas Slominski.

„Was ihnen gezeigt wird; ihnen wir der Alltag gezeigt, die alltägliche Normalität“, meint der Kunstphilosoph Boris Groys über Matrix-Kinobesucher in einem Vortrag über den „Verdacht als Medium“. Und fährt fort: Die Normalität sei die größte Täuschung, der Ort der Normalität der Ort des größten Verdachts. „Das ist der Urverdacht, der auch schon bei Hitchcock zu finden ist. Wenn bei ihm das Alltägliche und ganz Normale gezeigt wird, weiß man, dass jetzt irgendwann ein furchtbares Verbrechen geschieht.“

Kurze Texte in der Ausstellung bestätigen diesen Verdacht. Sie ergänzen kritisch, dass Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge zur Aufrüstung in den Werften gezwungen wurden. Außerdem tragen sie Hintergründe zur Stadtteilentwicklung bei: Die Terrassen der Vereinsstraße 54 – noch vor 20 Jahren sollten sie abgerissen werden – wurden mittlerweile in Eigentumswohnungen umgewandelt.

Wie einige dieser Gegenstände Kultobjekte werden konnten, erklärt die Ausstellung nicht. Aber sicherlich trägt ihre asketische Ästhetik zur Verstärkung bei. Ähnlich wie es Marcel Duchamp entfuhr, als er 1913 mit seinem „Fahrrad-Rad“ das erste Ready-made „schuf“: „Es war nicht zum Ausstellen gedacht, es war einfach für meinen eigenen Gebrauch.“

Mo 13–21 Uhr, Di–So 10–17, So 10–18 Uhr, Museum der Arbeit, Wiesendamm 3; bis 23.2.