bernhard pötter über Kinder
: Unter dem Diktat des Zufalls

Biathlon ist wie Leben mit Kindern: Man rennt sich die Seele aus dem Hals. Und trotzdem kommt alles ganz anders

Das Herz treibt das Blut mit 180 Schlägen durch den Körper. Die Lunge schreit nach Sauerstoff. Die Beine arbeiten wie Motorkolben. Der Schweiß perlt von der Nasenspitze. Uschi Disl hetzt den steilen Anstieg zum Schießstand hinauf.

Das Herz treibt das Blut mit 180 Schlägen durch den Körper. Die Lunge schreit nach Sauerstoff. Die Beine arbeiten wie Motorkolben. Der Schweiß perlt von der Nasenspitze. Bernhard Pötter ächzt mit seiner schlafenden Tochter im Arm und dem Wocheneinkauf auf dem Rücken drei Stockwerke hoch.

Ausatmen, Puls runter. Uschi Disl kommt zum Liegend-Anschlag. Ausatmen, Puls runter. Sie nimmt das Gewehr vom Rücken. Ausatmen, Puls runter. Sie setzt das Gewehr an und zielt. Luft anhalten. Schießen. Treffer. Atmen. Treffer. Atmen. Fehlschuss. Durchatmen. Treffer. Atmen. Treffer. Eine Strafrunde. Schwerer Zeitverlust.

Ausatmen. Puls runter, leise sein. Ich stolpere in die Wohnung. Ausatmen, Puls runter, leise sein. Ich nehme Tina vom Arm und lege sie auf den Teppich. Ausatmen, Puls runter, leise sein. Ich schäle sie aus ihrem Skianzug. Linkes Bein. Atmen. Rechtes Bein. Atmen. Linker Arm. Atmen. Rechter Arm. Atmen. Mütze ab. Tina wacht auf und brüllt. Eine Strafrunde: Tina ins Bett, beruhigen, Milch holen. Schwerer Zeitverlust.

Meinem Lieblingssender Eurosport verdanke ich viel. Tour-de-France-Etappen in voller Länge um Mitternacht, absonderliche „strong men contests“, in denen Männer mit dem Körper eines Superhelden und dem Gesichtsausdruck eines Superdoofen mit bloßen Händen einen Kleinwagen aufs Dach wuchten. Und die Einsicht, dass die deutschen Biathleten und Biathletinnen nicht in die Sportkompanie der Bundeswehr gehören, sondern in eine sofort zu gründende Sportkompanie des Familienministeriums. Denn, seien wir ehrlich: Biathlon ist nichts anderes als die Ertüchtigung für den Ernstfall. Das Leben mit Kindern.

Denn nicht nur bei Uschi Disl und Frank Luck muss jeder Handgriff am Schießplatz sitzen. Auch bei uns sind die Bewegungen durch tausendfache Übung eingeschliffen worden. Ankommen. Hinknien. Den Rucksack abstreifen. Hose runter, Body auf, Windel ab, wischen, Windel dran, Body zu, Hose hoch – und das alles in Sekunden, noch ehe die Norwegerin nebenan überhaupt durchgeatmet hat.

Eltern, ebenso wie Biathleten, hecheln mit hängender Zunge von einer Herausforderung zur nächsten. Sie bleiben in der Spur, sind nicht ansprechbar, sehen nichts von der herrlichen Umgebung und sind verloren, wenn das Material (dort der Ski, hier das Auto) versagt. Beide müssen zurechtkommen mit dem abrupten Wechsel von brüllender Aktion zu totaler Stille und der Einsamkeit des Langstreckenläufers.

Vor allem eines aber macht aus Biathleten perfekte Eltern (und würde uns zu perfekten Biathleten machen, wenn man uns nur an die Waffe ließe): der Umgang mit einem willkürlichen Schicksal, das alle Planungen über den Haufen wirft. Beim Biathlon ist es das Schießen, wo das gesamte Feld durcheinander gewürfelt wird: Galt Ole Einar Björndalen bis zum letzten Schießen noch als sicherer Sieger, kann er sich nach zwei Fehlschüssen eigentlich gleich selbst die Kugel geben. Beim Kinderhaben ist es meistens das Scheißen, das alles versaut. Wir hätten die U-Bahn noch bekommen, die uns zur S-Bahn gebracht hätte, um rechtzeitig am Flughafen zu sein. Aber dann musste Tina eben noch mal in die Hose drücken. Und Jonas hatte plötzlich Durchfall. Wir kamen nicht mal unter die ersten zwanzig.

Der große Zufallsgenerator namens Schießen macht aus dem Biathlon den spannendsten Wintersport. Die beliebig kombinierbaren Zufallsgeneratoren Verdauung, Krankheit, Interesse für Abseitiges und brennendes Desinteresse für das bislang Angesagte machen aus dem Leben mit Kindern die Hölle für Menschen, die ihrem Leben eine Richtung oder einen Sinn geben wollen – und ein Paradies für Chaosforscher, die alles gelassen sehen. Wenn ihnen jemand die dreckigen Windeln aus dem Weg räumt.

„Eigentlich liebst du Biathlon aber aus anderen Gründen“, sagt unsere Freundin Julia. „Erstens weil die Deutschen es so gut können. Und zweitens, weil es so deutsch ist: schießen und wegrennen.“ – „Hahaha“, sage ich. „Erstens können es die Norweger, Schweden, Finnen, Franzosen, Tschechen, Russen und Weißrussen genauso gut.“ Und zweitens ist Schießen und Rennen dann eben typisch norwegisch, schwedisch, finnisch und so weiter. Nein, eigentlich liebe ich Biathlon, weil es mich jedes zweite Wochenende tröstet, wenn wieder mal eine Bindehautentzündung bei Tina alle unsere Pläne für den Samstag über den Haufen wirft.

Und wenn ich ganz ehrlich bin, liebe ich Biathlon auch aus sanitären Gründen. Auf diesem Gebiet bietet dieser Sport nämlich Möglichkeiten, die mir verwehrt sind. Ich rede nicht vom Liegend-Anschlag. Den fand ich schon immer unpraktisch. Doch auf den Stehend-Anschlag der Skijäger in der freien Natur bin ich – WC-Hygiene hin oder her – immer wieder ein bisschen neidisch.

Fragen zu Kinder?kolumne@taz.de