Jeden Tag aufs Neue Chancen

betr.: „Pünktlich, fleißig, chancenlos“, taz vom 22. 9. 08

Es ist wichtig, der Öffentlichkeit aufzuzeigen, wie schwierig sich die berufliche Zukunft für Schülerinnen und Schüler einer Schule mit Förderschwerpunkt „Lernen“ im sozialen Brennpunkt Nord-Neukölln darstellt. Leider verfolgt der Artikel dieses Thema nicht konsequent. Statt dessen erliegt Herr Gernert, der Verfasser, der Versuchung, unsere Schülerinnen und Schüler wieder einmal medienwirksam an den Pranger zu stellen. Er hat einen ganzen Schulvormittag bei uns verbracht, freundliche Jugendliche nach ihren Praktikumserfahrungen gefragt, an den Vorbereitungen einer Schülerfahrt teilgenommen und unsere Schülerfirmen besucht. Aber erst der Konflikt dreier Schüler in der Mathestunde nimmt er zum Anlass, den Alltag an der Schule so darzustellen, als würden unsere Schülerinnen und Schüler im Unterricht unter den Tischen liegen und sich prügeln. Katastrophal auch das Bild von den Lehrpersonen.

Das entstandene Bild unserer Schule ist falsch! Wir geben unseren Jugendlichen jeden Tag aufs Neue Chancen, die sie anderswo schon lange verspielt hätten. Dabei haben wir auch Erfolge. Insbesondere im sozialen Umgang der Jugendlichen untereinander. Ohne unsere Erziehungsarbeit würden die sozialen Konflikte in Nord-Neukölln sich noch in ganz anderer Art und Weise manifestieren! Die zentrale Aussage des Artikels kann man in einem Satz zusammenfassen: „Unsere Schülerinnen und Schüler haben in aller Regel nach dem zehnten Schulbesuchsjahr noch keine Ausbildungsreife erreicht.“ Wir müssen das halbleere Glas jedoch aus einem anderen Blickwinkel betrachten: Aus der beschriebenen zehnten Klasse konnten wir neun Schülerinnen und Schülern einen „Berufsorientierenden Abschluss“ mit dem Vermerk „dem Hauptschulabschluss gleichwertig“ ausstellen. Bis auf eine Schülerin sind alle in den BQL-Klassen der Berufsschulen bzw. in den Hauptschulklassen angekommen. Das sind unsere Erfolge!

Der Artikel macht wieder die Schülerinnen und Schüler, unterschwellig auch das Lehrpersonal für eine Misere verantwortlich, deren Wurzeln eigentlich in einer Gesellschaft liegen, die für unsere Jugendlichen wenig Platz bietet. Wir müssen unseren Schülerinnen und Schülern jedoch Chancen und Perspektiven bieten, um sie vor drohender Armut und sozialer Ausgrenzung zu bewahren.

JAN FARNER, Adolf-Reichwein-Schule, Berlin

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von LeserInnenbriefen vor. Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.