Einschnürendes Bündnis

von BETTINA GAUS

Was interessiert die Öffentlichkeit an den bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen? Wie geschwächt der Bundeskanzler danach dastehen wird. Was interessiert nicht? Die Landespolitik. Aus gutem Grund. Denn das, was in Deutschland als „Föderalismus“ bezeichnet wird, hat sich zu einem Moloch entwickelt, der fast jeden Handlungsspielraum verschlingt – vor allem den der Landesparlamente. Es hat sich herumgesprochen, dass der Bundesrat die jeweilige Bundesregierung weitgehend lahm legen kann. Weniger Aufmerksamkeit erregt, dass die Länder dafür einen hohen Preis bezahlt haben: die Zustimmung zu ihrer fast vollständigen Entmachtung hinsichtlich ihrer eigenen Angelegenheiten. Ohne die Zustimmung des Bundes geht fast gar nichts. Und oft genügt nicht einmal die.

Der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel beschreibt die Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten gerne am Beispiel einer Ortschaft im ehemaligen Zonenrandgebiet, die seit der deutschen Vereinigung auf der Rennstrecke des Schwerlastverkehrs liegt. Seit 1990 kämpfen die Bewohner für eine acht Kilometer lange Umgehungsstraße. Weil das Dorf an ein Landschaftsschutzgebiet grenzt, bedarf es dafür einer Genehmigung aus Brüssel. Die Angelegenheit geht voran – aber sie geht langsam voran. „Nach 20 Jahren werden die Menschen dort eine Ortsumgehung haben“, sagt Gabriel. „Die begreifen nicht, warum das so lange dauert. Und ich kann denen nicht erklären, warum sie zur Wahl gehen sollen.“

So hatten sich die Eltern des Grundgesetzes das nicht gedacht. Die Europäische Union lag 1949 noch jenseits aller Vorstellungen – und die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern sah ursprünglich ganz anders aus. In seiner ersten Fassung legte das Grundgesetz ein getrenntes System für Steuern fest. Der Bund durfte damals allein über die meisten Verbrauchsteuern und die Umsatzsteuer entscheiden, die Länder hingegen über Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie über die meisten Verkehrsteuern. Das ist lange her.

Von 48 Änderungen der Verfassung zwischen 1951 und 2000 griffen 35 in das Bund-Länder-Verhältnis ein. Die meisten erweiterten die Kompetenzen des Bundes. Die Länder machten gerne mit: zum einen weil sie stärker als vorher an der Bundesgesetzgebung mitwirken durften, vor allem aber weil die Länder nun mehr Bundesmittel erhielten. Geld ist ein starker Magnet. Ursprünglich sah das Grundgesetz nur in 13 Fällen die Beteiligung des Bundesrates vor. Inzwischen bedürfen mehr als 60 Prozent aller Gesetze der Zustimmung der Länderkammer. „Das jetzige System übertüncht die finanziellen Verantwortlichkeiten, weil sich Bund und Länder die wichtigsten Steuerquellen teilen und auch immer mehr Aufgaben gemeinsam finanzieren“, schreibt der Politologe Gerd Langguth.

Glücklich ist damit eigentlich niemand. „Unser System des kooperativen Föderalismus steckt in einer Krise“, meint der CDU-Doyen Wolfgang Schäuble. Der Föderalismus funktioniere nicht mehr, er sei „entkernt und ausgebeint“, befand der FDP-Politiker Walter Döring schon 1998. Im Juni 2001 sagte der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident Wolfgang Clement: „Wo alle nur irgendwie mitverantwortlich sind, trägt niemand mehr die politische Verantwortung. Ich sehe darin eine der Ursachen für Politikverdrossenheit und Abstinenz bei Wahlgängen, auch und erst recht für die Abstinenz bei den Wahlen auf der Länderebene.“ Und sein Parteifreund Hans Eichel stellt fest: „Man kann nicht einen Reformbedarf akzeptieren, ihm aber dann nicht Rechnung tragen.“

Wenn das stimmt – warum wird ihm dann nicht Rechnung getragen? Weil die Verzahnung zwischen Bundes- und Landesebene wechselnde Allianzen zur Folge hat. Schließlich begünstigt das System – teils strukturell, teils informell – die kleinen Länder und die kleinen Parteien sowie auch die bundespolitische Opposition. Klingt das nicht wunderbar demokratisch, nämlich nach einem überaus wünschenswerten Schutz von Minderheiten? Ja, so hört es sich an. So ist es aber nicht. Gelegentlich muss nämlich auch die Mehrheit geschützt werden.

Die Stimmenverteilung im Bundesrat führt dazu, dass eine Stimme aus Bremen etwa 220.000 Einwohner repräsentiert – eine Stimme aus Nordrhein-Westfalen hingegen mehr als zehnmal so viele. Die „Bundesratsklausel“ besagt außerdem, dass Koalitionen sich im Streitfall der Stimme enthalten müssen. Ein Geschenk an die Juniorpartner! Die Stimmen eines Landes dürfen im Bundesrat nicht gesplittet werden. Deshalb ist der Fall denkbar, dass mehr als 94 Prozent der Abgeordneten eines Landesparlaments einem Bundesgesetz gerne zustimmen möchten – und dennoch sich das Bundesland bei der Abstimmung enthält. Was einer Ablehnung gleichkommt, da im Bundesrat nur die Jastimmen zählen.

Das ist kein Zufall. Der Mechanismus entspricht einem demokratischen Defizit. Als „Relikt des monarchischen Obrigkeitsstaates“ bezeichnete Wilhelm Hennis den Bundesrat schon vor Jahren. Der Emeritus der politischen Wissenschaften befand: „Dieses Organ ist demokratisch kaum zu rechtfertigen und inzwischen das eigentliche Scharnier eines sich selbst blockierenden Parteienstaates.“ Recht hat er. Im Bundesrat haben nur die Landesregierungen – die Teil der Exekutive sind – eine Stimme. Die Legislative ist dort vollständig machtlos, wo es um ihre eigentliche Aufgabe geht, nämlich um die Gesetzgebung. Man kennt das von der europäischen Ebene. Die Vertreter der Exekutive lassen sich das gelegentlich gerne gefallen – vor allem dann, wenn sie fälschlich den willkommenen Eindruck erwecken können, das Heft des Handelns in der Hand zu haben. Dann klopft ein hessischer Ministerpräsident schon mal wie von Sinnen auf sein Pult, oder ein Berliner Bürgermeister und ein brandenburgischer Ministerpräsident loben plötzlich eine Steuergesetzgebung, die ihre Parteifreunde absurd finden. Sie haben halt entweder zusätzliche Mittel vom Bund bekommen – oder hoffen, vor dem Verfassungsgericht gegen den Bund obsiegen zu können. Kleidsam ist beides. Systemwidrig auch. Und es hat auch nichts mehr mit Respekt vor dem Geist der Verfassung zu tun.

Die Öffentlichkeit interessiert sich am ehesten für die Aufgabenteilung zwischen Bundestag und Bundesrat, wenn es um Fragen der geistigen Grundhaltung geht: bei der Regelung der Abtreibung beispielsweise oder beim Staatsbürgerschaftsrecht. Im politischen Alltag spielen allerdings andere Themen eine Rolle. Den meisten Bundesgesetzen muss der Bundesrat nur deshalb zustimmen, weil damit Verwaltungsvorschriften verbunden sind, die in die Kompetenz der Länder fallen.

Die Folgen können für die Länder dramatisch sein: In vielen Fällen darf der Bund mittlerweile einfach anschaffen – und sie müssen zahlen. Das gilt für den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ebenso wie für Auflagen, die die Länder entsprechend dem neuen Naturschutzgesetz zu erfüllen haben. Warum wehren sich die Landesregierungen dagegen nicht? Weil es nicht nur einen vertikalen, sondern auch einen horizontalen Interessengegensatz gibt. Eine Stärkung der einzelnen Länder bedeutete zwangsläufig auch größeren Wettbewerb untereinander – eine Perspektive, der Kleinstaaten oder wirtschaftlich schwache Regionen wie die neuen Länder misstrauisch gegenüberstehen.

Es fehlt nicht an Vorschlägen, die auch diese Sorgen berücksichtigen: die konkurrierende Gesetzgebung auf das Nötigste zu beschränken, die Rückgabe von Kompetenzen des Bundes an die Länder, eine neuerliche föderalistische Trennung der Steuergesetzgebung, eine Entflechtung der Verwaltungskompetenzen von Bund und Ländern. Zum Beispiel. Warum kommt es dazu nicht? Weil die jeweilige Opposition der Bundesebene sich davon nichts verspricht.

So absurd es ist: Nur eine große Koalition auf Bundesebene, die gemeinhin als Gefährdung demokratischer Prinzipien gesehen wird, könnte eine demokratische Reform des verfilzten Föderalismus überhaupt in Agriff nehmen. Keine andere Konstellation wäre bereit, sich das – scheinbar – so nützliche Instrument aus der Hand schlagen zu lassen, das der Föderalismus in seiner gegenwärtigen Form bietet. Weder die Landtagswahlen in Hessen noch die in Niedersachsen werden jedoch ein solches Bündnis erzwingen. Es geht also weiter wie bisher: undemokratisch und ineffizient.