Der Berliner Kulturkampf

In den Boxsportvereinen kämpfen vor allem Kinder der Einwanderer. Sie machen aus der Not zur Selbstverteidigung eine Tugend des Bodybuilding

Veli Duman, Arayk Sachbazjan, Kazim Tungay, Ertan Isik

von HELMUT HÖGE

Um der zunehmenden Militanz gewachsen zu sein, fingen in den Siebzigerjahren immer mehr Linke an, sich fast klandestin in Kampf und Körperbeherrschung zu schulen. Inzwischen gibt es offiziell einige hundert Privatschulen in Berlin, in denen man/frau eine oder mehrere Kampfsportarten trainieren – und es beispielsweise bis zu einem „Capoeira“-Tanzkampfmeister bringen kann, was dem Brasilianer Léo Gonçalves gerade in Treptow bei einem rassistisch motivierten Überfall das Leben rettete, zumindestens die körperliche Unversehrtheit.

Auch immer mehr Türken in Kreuzberg, Neukölln und im Wedding schneiden sich die Haare kurz und betreiben Kampfsport. „Um dem Osten gewachsen zu sein“, wie mir der Kickboxer Suleymann erklärte, der damit jedoch gerade nach Osten abgetrieben ist, denn die fast untergrundmäßigen Kickboxveranstaltungen finden meistens dort statt. Die letzte in einer Marzahner Diskothek, die die Kampfhundebesitzer von nah und fern anzog, weswegen diese Veranstaltungen nun nicht gerade für ihre Ausländerfreundlichkeit berühmt sind.

Auch in den Knästen wird geübt wie verrückt und täglich Eisen gestemmt. Überhaupt scheinen die perspektivlosen Handarbeiter die Aufforderung, Ich-AGs zu bilden, erst mal dahingehend verstanden zu haben, dass sie ihren Ich-Panzer muskulär aufblasen. Und ähnlich wie in Amerika lange Zeit der Sport und der Kriegsdienst den Schwarzen fast die einzigen Aufstiegsmöglichkeiten boten (inzwischen ist noch das Musikgeschäft dazugekommen), sind auch hier jetzt die Kinder der Eingewanderten bzw. „Gastarbeiter“ aufgrund des massenhaften Wegfalls von Männer-Arbeitsplätzen gezwungen, aus der Not (zur Selbstverteidigung) eine Tugend (des Bodybuilding) zu machen.

Ein Betriebsrat von Osram in Spandau sagte mir, „früher wurden von zehn Stellen neun mit Türken besetzt, heute ist es genau umgekehrt: Neun bekommen Ostdeutsche, und höchstens einer wird mit einem türkischen Arbeiter besetzt“. Wo bleiben die anderen acht oder neun?

In Berlin gibt es 25 Boxvereine und außerdem noch fünf bis sechs „Profiställe“. Kürzlich fand in der Spandauer Bruno-Gehrke-Sporthalle der Bundesliga-Boxwettkampf zwischen Hertha BSC Berlin und dem BC Eichstätt statt, wobei die Preußen ebenso wie die Bayern, die mit einem ganzen Fanbus angereist waren, ihre neun Kämpfer aus allen Gewichtsklassen in den Vereinen der Umgebung rekrutiert hatten. Im Endeffekt traten die Berliner Boxer Said Ahmed, Faruk Shabani, Serdar Kahraman, Enrico Thormann, Patrick Dinzey und Alpaslah Karaman gegen die Eichstätter Veli Duman, Arayk Sachbazjan, Kazim Tungay, Alfonso Fusco, Ertan Isik und Dojan Vukoicic an. Von 18 Kämpfern trugen ein Preuße und drei Bayern deutsche Namen. In der Bruno-Gehrke-Sporthalle herrschte also das umgekehrte Verhältnis zwischen Eingebürgerten und Alteingesessenen wie in den Siemens-Osram-Werkhallen.

In den Pausen trat außerdem noch – als „besonderer Leckenbissen“ annonciert – die Tanzgruppe Swentana auf. Dabei handelt es sich um neun Marzahner Mädchen, die aus Kasachstan kommen. Ihr Tanzlehrer Anatol stammt aus Sibirien. Zur „Einstimmung“ sang die „iranische Nicole“ Litara zwei feinfühlige Lieder. Beim Einmarsch der Kämpfer klatschte jedoch der ganze Saal: „Das macht die Berliner Luft, Luft, Luft!“

Die etwa 40 Eichstätter, erkenntlich am gelben Vereinsschal, schwiegen. Sie befürchteten, die Punktrichter würden ihre Boxer hier benachteiligen – zu Recht, denn die ersten drei Kämpfe gingen völlig unverständlich an die Berliner. In ihrer heimischen Arena hatten die Eichstätter zuvor die Berliner mit 16:11 besiegt, hier mussten sie sich am Schluss mit drei Punktsiegen von neun möglichen K.o. begnügen.

Das Berliner Publikum bestand vorwiegend aus dickbäuchigen, kleinen Geschäftsleuten, denen man ansah, dass sie ihr Leben ebenfalls als ein einziges Durchboxen begriffen. Immer noch gut in Form waren dagegen die vielen anwesenden Boxveteranen, die sich jetzt als Manager oder Trainer durchschlagen. Es gab nur einige wenige Blondinen, die am lautesten schrien. „Boxer sind als Liebhaber begehrt, gerade ihre platten Nasen wirken erotisch auf viele Mädchen“, klärte mich die erfahrene Fotografin Mona Filz auf.

Said Ahmed, Serdar Kahraman, Patrick Dinzey, Faruk Shabani

Ich selbst, eher spitznäsig, wurde immer wieder mit Schnappi verwechselt: ehedem ein Croupier in den Spielcasinos am Savignyplatz, in der Grolmann- und in der Potsdamer Straße. Er scheint einigermaßen beliebt gewesen zu sein, denn mehrmals spendierten mir gesetzte Herren in Schwarz, aber mit dicken Goldkettchen, ein Bier.

Trotzdem verstimmte mich die ganze Veranstaltung. Ich erinnerte mich an ein frühes Dylan-Lied mit der Zeile „In Cuba – where boxing ain’t allowed no more!“ Die Amerikaner hatten viele ihrer besten Boxer unter den Zuckerplantagenarbeitern auf Kuba rekrutiert, wo die Plantagenbesitzer ihnen dergestalt zuarbeiteten, dass sie regelmäßig „Negerkämpfe“ veranstalteten – und dann vom Verkauf ihrer besten Fighter profitierten. Nach der Revolution verboten die Kommunisten kurzerhand den Boxsport. Inzwischen mischt Kuba aber wieder beim Boxen international mit.

Hierzulande deutet sich derzeit mit dem Zwang zur Ich-AG-Bildung ein wahrer Boxboom an. Wenn man ferner in Rechnung stellt, dass zur individuellen Durchsetzung der eigenen Interessen und erst recht zur kollektiven Durchsetzung vor allem Aufklärung und Wissen Not tut, bei jedem Boxkampf jedoch andererseits zigmillionen Gehirnzellen zerplatzen, dann ist das Boxen eine einzige antiaufklärerische Veranstaltung. Diese passt allerdings perfekt in das derzeitige weltweite Restaurationsklima.

So muss ich denn auch gestehen, dass mir einige Kämpfer in Spandau ganz gut gefallen haben. So etwa der bayerische Armenier Sergej Hakobjan, der was von einer Davidmaschine an sich hatte, und der bayerische Ukrainer Dimitri Sartison, der, statt sich mit den Fäusten zu schützen, mit dem Oberkörper auswich, wobei seine Arme locker herunterbaumelten. Das hatte etwas sehr Souveränes. Hinzu kam sein schönes, noch nicht demoliertes Gesicht: Er war erst 22 Jahre alt und hat von bisher 114 Kämpfen 53 gewonnen.