Die Schulmeisterin


„Sie übt gerne Macht aus“, sagt eine Kollegin über Riegel. „Da ist Demokratie manchmal lästig“

von CHRISTIAN FÜLLER

Wie eine Adlige zu Pferde. Enja Riegel trägt Cord, als sie die Steigung hinaufkommt. Über die Hosen ragen hohe Schaftstiefel aus einem feinen, ins Rötliche gehenden Leder. Am Rollkragen ihres groben Strickpullovers glänzt ein Jugendstil-Amulett. Die Schultern versinken in einem Nerzmantel. Aber wenn die Frau frühmorgens das Schulhaus in der Wiesbadener Langenbeckstraße erreicht, steigt sie nicht vom Ross – sondern vom Fahrrad.

Die Leute in dem Wiesbadener Viertel, in dem die Helene-Lange-Schule seit 1955 residiert, scherzen nicht nur über eine Frau, die im Nerz radelt. Sie sagen: Diese Frau hat etwas bewegt. Sie hat Ungewöhnliches geschaffen.

Enja Riegel, 62, ist Pädagogin, und sie hat ein Kunststück fertiggebracht. Sie hat eine Gesamtschule gegründet, der die Eltern die Türen einrennen. 400 Anmeldungen gibt es jährlich, für 100 Plätze. Vier Schulen in der Stadt ahmen mittlerweile die Lernprinzipien nach, um die Nachfrage stillen zu können. Und während die Dichter-und-Denker-Nation nach Pisa ein wenig depressiv wurde, machte Riegels Lernwerkstatt gute Laune: Sie erzielte Noten, die sonst nur den Pisa-Champions Finnland, Kanada oder Korea vorbehalten sind. Sie war 19 Jahre Rektorin in dieser Schule. Nun geht sie. Nächste Woche wird Enja Riegel die Helene-Lange-Schule nicht mehr leiten, sie geht in Pension.

Wiesbaden, Langenbeckstraße 6–18, es ist ein 50er-Jahre-Anstaltsbau. Aber in dem Kasten ist nichts so wie an anderen Schulen. Jeder Jahrgang hat sein „Revier“, eine eigene „Schule in der Schule“. Die Schüler lernen hier, spielen viel Theater – und müssen selber putzen. Zu jedem Revier gehören Lehrer. Ein achtköpfiges Pädagogenteam begleitet jeweils einen Schülerjahrgang. Von der Fünften bis zur Zehnten hinauf dieselben Lehrer. Identifikation heißt das Schlüsselwort. Enja Riegel sagt: „Eine gute Schule ist, wenn Schüler und Lehrer sagen: Das ist meine Schule.“

Seit Roland Koch, der Ministerpräsident von der CDU, seine Wiederwahl mit dem Leistungsprinzip forciert, hat auch die Rektorin ein neues Motto. „Leistung muss sich wieder lohnen“, kopiert sie ihn – und kichert. Koch will im Gesamtschulland Hessen das dreigliedrige System von Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien wieder verbreiten. Riegel hat aus dem ehemaligen Mädchengymnasium eine Gesamtschule geformt. Heute ist sie Pisa-Siegerin.

Dabei mag sie Gesamtschulen gar nicht, jedenfalls keine normalen. Sie hat selbst an einer „integrierten Gesamtschule“ gearbeitet. Seitdem spottet sie über die „gesichtslosen Verschiebebahnhöfe“ oder den am Ende doch selektiven „Etikettenschwindel“. Roland Koch hätte seine Freude daran, wie emphatisch die Rektorin über die Gesamtschule herfällt. Und es triebe ihm die Zornesröte ins Gesicht, was die Frau daraus folgert: einen dritten Weg. „Ich beschloss Schulleiterin zu werden – um nochmal ganz neu Schule zu machen.“

In der ganz neuen Schule setzt Riegel auf jene, die sonst in allen Schulformen aussortiert werden – die schlechten Schüler. „Sie sind das Salz in der Suppe“, sagt sie. „Um ihnen etwas beizubringen, muss man Fantasie aufbringen.“ Deshalb bleibt keiner sitzen, der Unterricht wird ständig umgekrempelt. Sehr wenig Frontalunterricht, sehr viele Lernprojekte – und Erfolg, Erfolg, Erfolg.

„Wenn bei uns ein Schüler einen Erfolg erzielt, dann wird er belohnt“, erklärt Riegel. Sie belohnt und sie zeigt Zuneigung. Im Sekretariat nimmt sie eine 13-Jährige in den Arm. Manchmal heißt Belohnung auch einfach schulfrei. So wie bei jenem kleinen Genie, das heute in Harvard studiert. Als er die anderen bei Dividieren und Dreisatz weit überflügelt hatte, brauchte er nicht mehr in Mathe. Er durfte Theater spielen. Oder an der Universität in den Vorlesungen schnuppern. Es gibt Pädagogen, die behaupten allen Ernstes, Enja Riegels Schüler seien ein bisschen glücklicher als die anderer Schulen.

Enja Riegel erscheint selbst wie eine Glückliche. Den Schülern Lebensmut geben. Das sagt sie immer wieder. Lebensfreude war wohl das prägende Motiv ihrer eigenen Kindheit. Sie stammt aus einer wohlhabenden Wiesbadener Familie. Genoss eine liberale, bürgerliche Erziehung. Las viel. Das Höchste war es für das Mädchen Enja, mit ihrem Großvater Heinrich über die Wilhelmstraße zu flanieren, Wiesbadens Einkaufsstraße. Sie hieß ja auch noch so: Enja Glücklich. Wer sie heute in ihrem Rektorinnenzimmer besucht, findet Hinweise, dass Enja Riegel wieder angekommen ist in ihrer bildungsbürgerlichen Jugend. Commedia-del-Arte-Masken blicken auf ihren Biedermeierschreibtisch, an der Wand gegenüber hängt eine Anglerszene in Öl von Mödinger.

So pittoresk war es nicht immer um sie. Als die Frau vor 35 Jahren als Referendarin in der Helene-Lange-Schule ihre Lehrerlaufbahn begann, gab es gleich einen Skandal. Die Riegel trug Hosen. Der Rektor war entsetzt, die Kolleginnen schwankten zwischen Bewunderung und Abscheu. Ihre Schule war damals noch ein Gymnasium. Es herrschte die Kleiderordnung der früheren Höhere-Töchter-Schule. Plötzlich sollte sie sich der Tradition einer ehrwürdigen Lehranstalt anpassen.

Anpassen? Im Bergkirchenviertel von Wiesbaden gilt die junge Mutter zu dieser Zeit als Bürgerschreck. Sie hat den Kopf voller antiautoritärer Ideen, gründet einen Kinderladen und macht in der verschlafenen Beamtenstadt Rabatz. Damit die Kinder in ihrem Viertel endlich einen Spielplatz bekommen, besetzen sie und andere 1972 einen Friedhof. Sie muss den Leuten furchtbar auf die Nerven gegangen sein. Selbst der örtliche Jungsozialisten-Chef sagt ihr damals: „Wo du aufkreuzt, bleibt nur verbrannte Erde zurück.“

Sie wird Lehrerin an einer Gesamtschule, an einer Grundschule, arbeitet an einem Schulforschungsinstitut des Landes. 1984 bestellt der damalige Kultusminister Hans Krollmann (SPD) Enja Riegel zur Leiterin der Helene-Lange-Schule. Die Frau, die nach dem Referendariat gegangen war und seither die Pädagogenszene der Gegend aufgemischt hatte. Als sie antritt, begrüßen die Lehrer die Neue in Trauer: Das Kollegium trägt Schwarz.

Heute, 19 Jahre später, wäre das Bürgertum, das Enja Riegel einmal gegen sich aufbrachte, zufrieden. Eine wiedergefunde Tochter. „Ich habe ein fast sinnliches Verhältnis zu Geld“, schwärmt sie. Mancher ihrer Lehrer nähme bei so einem Satz wahrscheinlich Reißaus. Aber die Riegel kommt erst in Fahrt. „Ich finde es wichtig, Schülern beizubringen, dass man auch Dienstleistungen verkaufen kann.“

Sie macht die Schüler mit dem Markt vertraut. In Nepal betreibt die Schule ein eigenes Krankenhaus. Sieben Schulen haben die Paten aus Wiesbaden dort gebaut. Beinahe 40 Lehrkräfte werden von Deutschland aus bezahlt. Das Geld dafür besorgen die Schüler, etwa bei Sponsoren, die für die Fahrradrallye zahlen. Das ist die Managerin in ihr. Sie nennt die Projekte anderer Schulen „Kikifatz, der nicht in die Tiefe geht“. Ihre Schule will sie „wie ein Unternehmen führen“.

Die Rektorin erklärt: „Eine gute Schule ist, wenn Lehrer und Schüler sagen: Das ist meine Schule“

Für die Schüler mag das Zuverlässigkeit und Kontinuität bedeuten. Für die Lehrer muss es manchmal eine Zumutung sein. Das Prinzip, nicht nach Begabungen zu sortieren, bringt es zum Beispiel mit sich, dass die Methode „Einer doziert, viele hören zu“ nicht funktioniert. Lehrer, die trotzig daran festhalten, haben unter dem Regime Enja Riegels keine leichte Zukunft. Oder gar keine. Es gibt Fälle, da hat die Rektorin persönlich dafür gesorgt, dass ein Lehrer gehen musste. „Darf ich Ihnen bei der Versetzung helfen“, soll sie einmal gesagt haben.

Die Lehrer wollen sich auf keine Beschreibung ihrer Rektorin festlegen. Die Personalratschefin Brigitte Reinbacher-Kaulen etwa schwärmt von der Ganzheitlichkeit ihrer Schulleiterin, von dem Ansteckungsgeist, den sie ausströmt. Um dann festzustellen, dass Enja Riegel etwas Monarchisches an sich hat. „Sie übt gerne Macht aus, sie liebt es, schnell und eigenwillig Entscheidungen zu treffen. Da ist demokratisches Handeln eben manchmal lästig.“

Die ganze Zwiespältigkeit offenbart das Begrüßungsritual, das die Rektorin seit einigen Jahren bei neuen Lehrern praktiziert, ja zelebriert. „Was für die Seele“, nennt Riegel es.

Immer am letzten Tag der Sommerferien findet die erste Sitzung des Kollegiums statt. Es wird gefrühstückt, geredet. Am Boden in der Mitte des Raums liegt ein roter Samtteppich. Darauf ist ein Mandala angeordnet, ein Kreis aus Steinen, der eine Kraftquelle symbolisiert. Der neue Kollege tritt, zusammen mit der Chefin, barfuß in den Kreis. Sie überreicht einen Stein. Der Lehrer soll sich etwas wünschen für seine Zeit in der Schule. Dann sagt sie: „Und jetzt gehören Sie dazu.“

In und außerhalb der Schule wird über diese beinahe spiritistische Zeremonie gespottet. Die Neuen, so geht das Gerücht, müssten vor der Rektorin niederknien. So ist es natürlich nicht. Aber auch im Kollegium, wo man eine feierliche und würdige Begrüßung junger Lehrer wichtig findet, sind die Anwandlungen umstritten. Das ist etwas, heißt es, was man nach Enja Riegel anders machen könnte. Kein Samtteppich mehr, kein Mandala, niemand barfuß.

Diese Woche steht ein regelrechter Marathon von Verabschiedungen an. Jeder Jahrgang sagt der Rektorin einzeln Lebwohl. Auch die Lehrer bereiten etwas vor. Sie sind unruhig. „Wir haben uns vorbereitet auf die Zeit nach Enja“, sagt ein Kollege nervös. Vielleicht werden sie am Ende doch niederknien.