Den rettenden Zahlencode verloren

Allmacht aus dem Off unterbricht die trostlose Scanner-Existenz der Gesichtslosen unserer Tage: Falk Richter liest im Schauspielhaus gemeinsam mit Ensemblemitgliedern aus seinem neuesten Stücketext „Electronic City“

Trotz Falk Richters Raketenstarts vor sechs Jahren hat ihn die Popularität nicht abheben lassen. Der 1969 geborene Autor-Regisseur etablierte sich an den großen Bühnen in Hamburg, Berlin und Zürich und legt jährlich ein neues Stück vor, das er meist unter eigener Ägide uraufführt. Vorher geht er mit dem Text im kleinen Kreis auf Lesetour. So liest er heute im Schauspielhaus mit Ensemblemitgliedern aus Electronic City.

Electronic City ist ein typisches Richter-Stück. Sturzbäche aus Worten erzeugen beim Lesen einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Androgyne, geschichtslose Masken füllen sich langsam blubbernd mit Konturen: Tom und Joy. Doch bevor sie aus den schäumigen Sätzen auftauchen, hört man Falk Richters Stimme: die Regie als Text. Denn im Prinzip wechseln in Richters Theatertexten prosaische Handlungsbeschreibungen und klassische Mono- oder Dialoge einander ständig ab – in Electronic City stärker als zuvor.

Dann also: Auftritt Tom – „zu oft den Ort gewechselt in der letzten Zeit, die Orientierung verloren“ – und Auftritt Joy: Stand-By-Kraft an einem Fast-Food-Stand, Aufgabe: „diesen Scheißinfrarotscanner ans Etikett zu halten und am Ende auf ,Summe‘ zu drücken“. Aus dem Off unterbricht die Stimme eines Allmachts-Regisseurs den Take-off des Geschehens: „Cut!“

Richter zeichnet in diesem Stück ein düsteres Megapolis der Welt, dessen einzige Helle von seinen rekursiven, wie Neuronen feuernden Sprachfunken stammt. Globalisierung ist ein Stichwort. Tom findet den Zahlencode, der ihn ins Leben zurückholen könnte, nicht wieder. Joy endet Zlatko-esk als Episode einer Fernsehserie. Eine sich selbst replizierende Kopie ihrer selbst: „Joy‘s World - A World of Joy“.

Dass die zwei sich lieben könnten, fällt schwer zu glauben. Ihre Welten – jede Stadt, die einen Flughafen besitzt – lassen sich nur mit kombinatorischem Geschick verbinden. Aber vielleicht treffen sie sich ja in „Schicht 37b in Abschnitt A in Toronto, bist du dann da nicht irgendwo in Vancouver oder so?“

Die Lesung vor Uraufführung und das Spiel mit Text und Ensemble, noch während der Proben, gehört zu Richters Arbeitsstil. Hippe Videoscreens fallen ganz weg, und alles konzentriert sich auf die Stimmen, den Text. Sprechspaß steht im Vordergrund. An diesem Abend hintermischt Richter die Lesung persönlich mit Musik, schraubt an den Knöpfen seines Mischpults wie ein DJ und spült gelegentlich Bekanntes in die Ohren. Björks All is Full of Love war es in Gott ist ein DJ. Diesmal ist Julia von den Eurythmics zentraler Bestandteil von Electronic City. Die Zeile: „I feel so empty, I am so fucking empty, I don‘t know who I am“ steht über dem Stück. Gefüllt wird sie mit der Liebe eines Autors zu seinem Text.

Christian T. Schön

heute, 21 Uhr. Schauspielhaus