Und raus bist du …

Die Spieletester des Neuköllner Verlags Schmidt-Spiele haben alle Hände voll zu tun. Die Schränke sind voll mit neuen Konzepten, die Auswahlphase ist hart. Die zehn Ideen, die letztes Jahr über „Los“ ziehen durften, sind seit gestern als neue Brettspiele auf der Nürnberger Spielwarenmesse zu sehen

„Schach und ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ hätten heute keine Chance mehr“

von ANNE HAEMING

Wäre der Firmenhauptsitz ein Brettspiel, niemand würde es aus dem Regal ziehen. Ein belangloser Bau im Industriegebiet Neukölln. Badstraße statt Schlossallee. Kein Schild, keine Farbe, kein Garnix. Der Blick durch die Glastür entdeckt nur Treppenhaus – und an der Wand den weißen Rüschenschlüpfer einer besenreitenden Comicfigur. Damit ist klar: Hinter den tristen Mauern brodelt die Fantasie.

Hier bei Schmidt sitzen echte Spielernaturen. Sie entscheiden, ob noch ein Piratenspiel auf den Markt kommt und wie Puzzles aufregender werden könnten, zum Beispiel mit 3-D-Bildern. Übrigens mit Erfolg: Die langweiligen Steckspiele sind der Knüller der Firma, im letzten Jahr haben sie über acht Prozent mehr davon verkauft, freute sich Geschäftsführer Axel Kaldenhoven auf der gestern gestarteten Nürnberger Spielwarenmesse.

In Neukölln beugen sich seine Mitarbeiter über ein Brett, einen Würfel und einen Stapel Karten und – spielen. Natürlich nicht zum Vergnügen. Ihre Mission: Konzepte finden, die in den Spieleabteilungen Karriere machen.

Rund dreißig Autoren hat der Spieleverlag. Mitunter rufe auch einer an, der spontan eine „ganz tolle Idee“ hatte, „gestern Abend beim Bierchen“, erzählt Tester Nils Jokisch. Wenn er das höre, sei er sofort skeptisch. Von rund tausend Ideen, die pro Jahr eingeschickt werden, dürfen am Ende nur zehn über „Los“ ziehen und die Kohle einsacken.

Testrunden morgens um elf können ganz schön knifflig sein. „Für die ideale Stimmung müssten wir erst mal 40 Euro investieren, ein paar Kräcker kaufen und abends ein paar Leute einladen“, schwärmt Jürgen Valentiner-Branth, Produktmanager des Verlags. Manchmal fragen Familien an, ob sie testen dürfen. „Aber die beurteilen das Spiel immer zu gut, weil sie wieder mitmachen wollen“, erzählt er. Kinderspiele schicken sie zur Prüfung an Kitas: Dort sitzen die „gnadenlosesten Kritiker“.

Doch an diesem Morgen gibt’s statt Knabberzeug im Wohnzimmer nur Kaffee mit Sahne im Büro. Auf zwei Tischem stapeln sich jede Menge Spieleschachteln hüfthoch an der Wand entlang. Katzenpuzzles sind das, und welche mit Dinosauriern, 1.000 Teile oder 2.000. Aber diese Version der Meditation interessiert die Runde nur am Rande.

Valentiner-Branth, Jokisch und ihr Kollege Kai Borschinsky haben nur Augen für fünf bunt bemützte Pinguine und einen rot gewandeten Merlin. Die handbemalten Prototypen des Autors ernten ein wohlwollendes Schmunzeln. Was das Spiel selbst taugt, ist noch offen. Würde nur die Anleitung darüber entscheiden, dem Autor wäre eine Ereigniskarte sicher: „Ab ins Gefängnis!“ Die Regeln sehen aus wie in Airbrush gebadet. Aber es könnte dennoch der Knüller sein. Deswegen ganz diplomatisch: „Ein Abschlagspiel ist mal was anderes.“

Erst einmal die weißen Papp-Hexaeder auf dem Tisch verteilen. Es sind die Eisschollen, auf denen die Pinguine vor dem Nikolaus fliehen. Sie haben ihm Geschenke vom Schlitten geklaut, die will er natürlich zurück. Kaum hat die Runde begonnen, bringt das Regelwerk den Spielfluss zum Stocken. „Ziemlich komplex für ein Kinderspiel“, stöhnt Valentiner-Branth. „Bei Sonderregeln schrillen bei mir alle Alarmglocken. Da geht die ganze Eleganz des Spiels verloren.“ Er würfelt, kratzt sich am Kopf. „Jetzt zeig ich euch mal, wie das geht“, erklärt er großspurig. „Bu-haa!“, macht er und stellt einen Eisbären vor Borschinskys Pinguin. Vor Furcht gelähmt, muss der eine Runde aussetzen. Dann: neue Unklarheiten. „Ich würde jetzt sofort den Autor anrufen – wenn mich das Spiel reizen würde.“ Er holt Luft. „Wir haben genug gespielt, oder?“ Die Kollegen nicken.

Spielereien zum Beruf zu machen, das hatte Nils Jokisch nie vor. Er war früher in einer Werbeagentur, mit Gesellschaftsspielen hatte er nichts am Hut. Das hat sich geändert: „Letzte Woche habe ich sogar mit meinen Eltern ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ gespielt, das erste Mal seit 20 Jahren.“ Valentiner-Branth, von Haus aus BWLer, ist nach dem Studium direkt zu Ravensburger gegangen. „Ich dachte mir, das ist ein schöner Lebensinhalt“, meint er trocken.

Der besteht auch darin, Spielregeln so knapp wie möglich zu formulieren. Scheitern die Kunden am Papierkonvolut, dann verstauben die rappelnden Schachteln im Schrank. „Schach hätte heute keine Chance mehr“, meint Valentiner-Branth. „Und unser ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ würde unsere Testrunde wohl auch nicht überstehen.“ Aber in der Not erfinden sich viele Kunden selbst eine Lösung. Bei manchen Produkten gebe es wahnsinnig viele Spielvarianten, so Borschinsky. „Andere wollen sich verbohrt an die Regeln halten und rufen dann dauernd bei uns an. Vor allem bei Kniffel.“

Der nächste potenzielle Verkaufsschlager kommt in einer Geschenkeschachtel auf den Tisch. Ob blaugrüne Streifen ein gutes Omen für das Spiel des Jahres sind? „Wir könnten den ganzen Tag so weitermachen“, meint Valentiner-Branth. „Die Schränke sind voll.“ Ein Spiel kann auch mal zwei Monate in der Warteschleife hängen – das den Absendern zu verklickern ist ein undankbarer Job. Es seien vor allem Lehrer, erzählt Joschik. „Die haben nachmittags immer frei. Nein, wirklich, die ganzen Freizeiterfinder müssen ja ziemlich viel Zeit aufwenden.“

Nach der Auswahl beginnt die eigentliche Arbeit, die Testrunden machen nur zehn Prozent des gesamten Ablaufs aus. Und das alles, obwohl neue Konzepte meist aus einem Mix bekannter Versatzstücke bestehen. „Ich frage mich oft, warum wir nicht einfach die alten Spiele noch mal auflegen“, seufzt Jokisch. Aber klar, alles müsse „neu, neu, neu“ sein. Dabei hätten sie eine Menge altersschwacher Inspirationen im Haus: ein Archiv mit fleddrig gespielten Schachteln.

Zwischen „Mister Ed, das sprechende Pferd“ und „Der magische Roboter“ lagert eines der ältesten, ein Karl-May-Spiel. „Wir reisen mit Karl May vom Sinai zum Tigris“ steht auf der Anleitung. Dass die Regeln dufte seien, garantiert handschriftlich „Euer Onkel Harry“. Zinnfiguren kullern in der Box und eine steppengelbe, ausgebleichte Landkarte.

Ein Regal weiter: eine kuriose Kombination aus Video und Brettspiel aus den Achtzigern. Auf dem Bildschirm begleitet ein grünes Monstergesicht den Spielablauf. Ist das Band zu Ende, steht fest, wer gewonnen hat. Die zerknautschte Visage erinnert nicht nur an „Das Bildnis des Dorian Gray“ sondern hat auch fatale Ähnlichkeit mit einem anderen, Furcht einflößenden Mann. Der prangt auf dem Deckel von „Mensch ärgere Dich nicht“.