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: Die schnellsten schwarzen Schafe der Welt

Ben Johnson lässt grüßen

„Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn wir vor Ihrem nächsten Meeting eine Pressekonferenz veranstalten?“, fragt Istvan Gyulai und liefert die Antwort gleich selbst: „19 von 20 Fragen würden sich um Francis drehen.“ Man darf getrost davon ausgehen, dass der Generalsekretär des Leichtathletik-Weltverbands IAAF untertreibt: Bei Marion Jones und Tim Montgomery, den schnellsten Menschen der Welt, würden sich momentan alle Fragen um ihre Liaison mit Charlie Francis drehen. Schließlich hatte dieser einst nach dem olympischen Sündenfall Ben Johnsons 1988 in Seoul freimütig zugegeben, seinen Schützling mit Anabolika zu Höchstleistungen getrieben zu haben, und war lebenslänglich gesperrt worden – allerdings nur, was die Betreuung kanadischer Athleten betrifft.

Dass ausgerechnet Jones und Montgomery, auch privat ein Paar, dem berüchtigten Coach aus Toronto zu neuer Berühmtheit verhelfen, versetzt die Leichtathletikszene in Aufruhr. Zumal die Trennung vom alten Trainer Trevor Graham geradezu sektenhafte Implikationen aufweist. Graham hatte Marion Jones in den letzten fünf Jahren von Sieg zu Sieg gecoacht, die vergangene Saison beendete sie ungeschlagen. Montgomery wurde unter seinen Fittichen im September zum Weltrekordler. Danach verabschiedete man sich in bester Harmonie in den Urlaub, seither hat Graham von seinen beiden Top-Athleten nichts mehr gehört. Lediglich ein kurzer Brief mit der Kündigung trudelte im November ein.

Ähnlich wie bei Radprofi Lance Armstrong im Falle seines übel beleumundeten Wunderdoktors Michele Ferrari, wurde versucht, die Zusammenarbeit mit Francis so lange wie möglich zu vertuschen. Erst als Fotos diese kürzlich bewiesen, ging Charlie Wells, der Manager des Paars, in die Offensive. „Wir haben überhaupt kein Problem damit“, erklärte Wells, „alle finden es toll, das Feedback ist großartig.“

In der Tat gibt es auch gute Gründe für den Wechsel der Sprinter zu einem selbst stilisierten Laufguru wie Francis und die Sache ist durchaus nicht ohne Pikanterie. Montgomery lief zwar Weltrekord in 9,78 Sekunden – im Übrigen exakt Ben Johnsons Zeit von Seoul – in großen Rennen versagte er jedoch meist. Marion Jones wiederum hatte letztes Jahr angekündigt, den obszönen Weltrekord von Florence Griffith-Joyner (10,49) von 1988 brechen zu wollen. Dafür muss sie sich – abseits aller illegalen Optionen – technisch verbessern, und Francis gilt auf diesem Gebiet als absolute Kapazität. Der 54-Jährige vertreibt seine „Fast“ (Francis Advanced Speed Training) genannte Methode per Website (2 Videos für 99,99 Dollar), und für 145 Dollar kann man ihn anrufen und sich eine Stunde lang beraten lassen. Selbst Charles Dubin, Vorsitzender der nach ihm benannten Kommission, die nach 1988 die flächendeckende Dopingpraxis im kanadischen Sport enthüllte, hält ihn für einen „sehr talentierten Coach“. Francis habe genug gebüßt, findet Dubin, und sollte das Recht haben, wieder Top-Athleten zu betreuen.

Mit dieser Meinung steht Dubin ziemlich allein, denn Charlie Francis propagiert zwar nicht direkt Doping, aber verbreitet in regelmäßigen Beiträgen, etwa für das einschlägige Magazin Testosterone, munter jene Thesen, die er schon der Dubin-Kommission darlegte. Kein Sportler käme ohne Doping in die Weltspitze – „sauber sind nur die Verlierer“. Athleten, die als scharfe Dopinggegner auftreten, müssten zwangsläufig selbst Doper sein, denn sonst hätten sie ja nie so prominent werden können, dass ihnen jemand zuhört. Bei Olympia in Sydney hätte es laut Francis eigentlich „2.300 positive Dopingtests“ geben müssen, die Medaillen sollte man den Ärzten und nicht den Athleten verleihen. Verbandsfunktionäre und Meetingveranstalter wüssten all das sehr genau, würden aber nichts unternehmen, weil sie auf Rekorde und Spitzenleistungen scharf wären. Kaum hätte die Dubin-Untersuchung zweifelsfrei bewiesen, dass kein sauberer Kugelstoßer jemals mehr als 20 Meter geschafft habe, hätte Kanadas Verband die Olympianorm für 1992 auf 20,85 m gesetzt.

Mit diesen Theorien hat Charlie Francis seine neuen Schützlinge Marion Jones und Tim Montgomery quasi schon vorab als Doper identifiziert, ob er in Bezug auf die Funktionäre Recht behält, bleibt abzuwarten. IAAF-Präsident Lamine Diack will, ganz Vaterfigur, dem „netten Mädchen“ Marion Jones, Darling des Verbands mit eigener Kolumne auf der Website, ins Gewissen reden. Die Golden-League-Veranstalter erwägen, die beiden schwarzen Schafe kollektiv nicht einzuladen. Sollten sie es tatsächlich fertigbringen, auf ihre größten Zugpferde und all die schönen Duelle von Maurice Greene und Tim Montgomery zu verzichten – nicht nur Charlie Francis würde staunen. MATTI LIESKE