Die Unrast wächst in Chinatown


Der Captain tobt, wenn es mit der Eroberung Bagdads nach dem fünften Mal immer noch nicht klappt

aus Kuwait-Stadt KARIM EL-GAWHARY

Sie sind im Namen des Herrn unterwegs, die Soldaten der dritten Infanteriedivision der US-Armee. „Danach hörte ich die Stimme des Herrn, der sagte: Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen? Ich antwortete: Hier bin ich, sen7de mich!“ (Jesaja 6,8).

Gemäß dem biblischem Motto ihrer Division hat es die über 10.000 Soldaten diesmal in die kuwaitische Wüste verschlagen. Dort findet sich so manch gläubiger Krieger in einer wahrlich gottverlassenen Gegend wieder. Eine gute Autostunde über Sandpisten von der nächsten Asphaltstraße entfernt liegt der „Range Number Six“. Eigentlich würde sich dieser Ort vor allem durch sein Nichts auszeichnen: eine flache Wüstenebene, über die an manchen Tagen der Wind erbarmungslos den Sand vor sich hertreibt. Dass sich hierher keine Seele verirrt, gilt umso mehr, als das Gebiet zu jener Region Kuwaits gehört, das als operative Zone der US-Armee für die Öffentlichkeit gesperrt ist.

Denn sie wollen sich in Ruhe auf die Invasion in den Irak vorbereiten, die 200 Soldaten des 315. Infanterieregiments, die derzeit auf Range Nummer sechs, nur 15 Kilometer südlich der irakischen Grenze, den Häuserkampf üben. Sergeant Martínez beschreibt das Ziel des Trainings. Es gehe beim dreidimensionalen Häuserkampf darum, reflexives Feuern zu üben – mit anderen Worten: sicherzustellen, dass man selbst überlebt, den Feind tötet und die Zivilisten möglichst schont.

Dafür hat die US-Armee auf Range Nummer sechs eigens ein kleines Hüttendorf mit einem Dutzend Holzverschlägen aufgebaut und es auf den etwas deplatzierten Namen „Chinatown“ getauft. „Wir haben versucht, Bagdad realistisch darzustellen, mit Häusern und Sand“, verrät einer der Soldaten seine Vorstellung von der irakischen Dreimillionenmetropole.

Seit September befindet sich die Einheit in Kuwait, und die Ungeduld wächst. „Jeder möchte, dass es vorübergeht. Entweder wir marschieren Richtung Norden“, erklärt der zweite Kommandeur des Regimentes, Captain Eric Polsgrove, und zeigt auf die nahe gelegene irakische Grenze. „Oder wir fahren über Kuwait-Stadt zurück nach Hause“, fügt er diplomatisch hinzu. Und dann packt den 25-jährigen Offizier, der an der renommierten Westpoint-Militärakademie graduiert hat, doch noch der Kriegerinstinkt. Das Letzte, was er wolle, sei, dass so viel Zeit verstreiche, dass seine Einheit im Rotationsverfahren ausgewechselt wird, ereifert er sich. „Meine Jungs sind verdammt heiß auf den Einsatz und wollen auf keinen Fall zusehen, wie andere den Job machen. Das, meint er, wäre eine Verschwendung des Geldes und des Trainings, das die Armee in sie investiert habe.

Captain Polsgrove war beim letzten Golfkrieg (1991) gerade einmal 13 Jahre alt. Und ist trotzdem einer der Älteren in seiner Kampfeinheit. Dagegen liegt der Soldat David Fischer aus Indiana mit seinen 20 Jahren voll im Durchschnitt. An die Operation Desert Storm kann sich der damals Achtjährige kaum erinnern. Dafür umso besser an den 11. September 2001, als er gerade volljährig wurde. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York meledete er sich im Anschluss an das College sofort bei der Armee. „Ich hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen“, sagt er, während er sich mit seinem Schnellfeuergewehr im Schatten einer der Hütten von Chinatown alias Bagdad von seiner letzten Häuserkampfübung ausruht.

Sein Motiv spricht er klar aus: „Ich will Rache. Ich möchte es ihnen heimzahlen.“ Auf die Frage, ob er dann nicht besser Ussama Bin Laden jagen sollte, statt Saddam Hussein anzugreifen, kommt er ein wenig ins Grübeln. Er habe tatsächlich keine Beweise, dass Saddam Hussein ein Terrorist sei, antwortet er dann. „Aber schließlich“, fährt er fort, könne dieser das noch werden. Die Möglichkeiten und die Führungskraft dazu habe er bereits. „Wir sollten nicht nur Terrorismus bekämpfen, wenn etwas passiert ist, sondern auch dafür sorgen, dass es erst gar nicht dazu kommt“, führt er gemäß der Präventivschlaglogik seines Präsidenten aus. Jedenfalls will er nicht mehr lange herumsitzen. „Lass es uns jetzt hinter uns bringen. Wir möchten nicht später noch einmal wiederkommen müssen, um uns der Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins anzunehmen“, erklärt er seine Ungeduld.

Ein wenig Angst habe er selbstverständlich auch, das sei schließlich menschlich. Aber er vertraue eben auch seinem Einsatzteam und seiner Ausbildung. Und außerdem hänge es auch davon ab, gegen wen man kämpfe. „Ich würde sicherlich mehr schwitzen, wenn es sich um China handelte“, sagt er.

Dann scheucht ihn sein Offizier wieder hoch, um die Holzhütten zu sichern. Ohne Zweifel könnte jeder seiner Panzer diese Häuser wegpusten, das könne jeder Affe, eröffnet der Ausbilder, Captain Vogel, die Übung. Das Problem sei, dass ihnen das kaum erlaubt würde. Also wird das Sichern von Häusern geübt, Tag und Nacht, immer wieder die gleichen Schritte, mal mit leerem Magazin, mal entsichert, mit scharfer Munition. Das Alpha-Team stürmt voraus, das Bravo-Team deckt sie, und Captain Vogel steht wie der oberste Choreograf in einer der Holzhütten mit zahlreichen Räumen, Türen und Treppen.

Vogel ist mit seinen 35 Jahren fast so etwas wie eine Vaterfigur. Mit einer Engelsgeduld weist er seine Männer immer wieder auf ihre Fehler hin. Zunächst müsse der „dominante Punkt“ gefunden werden, von dem aus der gesamte Raum überblickt werden könne. Dann muss der Statusbericht durchgegeben werden, und wenn ein Squad-Team den Raum „besitzt“, arbeitet es sich vorsichtig in die anderen Zimmer vor. Und immer wieder „dominanter Punkt“, „Statusreport“, „Raum besitzen“ und so weiter.

„Meine Jungs sind heiß auf den Einsatz und wollen auf keinen Fall zusehen, wie andere den Job machen“

Zur Abwechslung sind in einigen Räumen schwarze Pappfiguren versteckt: der Feind, der „ausgeschaltet“ werden muss. Zunächst wird alles, was im Weg steht, erschossen. Auf den Einwand, dass nicht nur Saddam Husseins Republikanergarden in den Häusern verschanzt sein könnten, reagiert Captain Polsgrove ganz gelassen. „Wenn die Jungs das hier erst einmal schaffen, dann werden auch ein paar andersfarbige Pappfiguren als Zivilisten aufgestellt.“ Die Anweisung für diese lautet dann: Gewehr runter, bevor sich der Finger am Abzug krümmt. Dem zivilen Besucher von der Presse bleibt nur zu hoffen, dass den Soldaten genug Zeit bleibt, um auch diesen nächsten Programmpunkt Tag und Nacht zu üben.

Da nicht das ganze Team in Funkkontakt steht, wird der Status auch durch Schreie an den Rest der Gruppe wiedergegeben. So kommt dann der Chinatown-HiFi-Effekt zustande. „Langer Raum mit zwei Türen rechts, eine geschlossen“, hallt es aus der einen Hütte, „Feind ausgeschaltet, Raum im Besitz“, aus der anderen, während vorne gerade lautstark eine Tür aufgetreten wird. Captain Vogel gibt sich gegenüber Journalisten zuversichtlich. Er habe vollstes Vertrauen, dass seine Männer für den Job, den sie zu machen haben, vorbereitet sind.

Aber drinnen im Holzverschlag mit den vielen Türen im Gang und großen und kleinen Räumen, in denen wieder Türen zu anderen Zimmern führen, klingt das oft ein wenig anders. In den wenigen Momenten, in denen dem Choreografen Vogel der Kragen platzt, wenn es nach dem fünften Mal mit der Eroberung Bagdads immer noch nicht klappt, unterbricht er schon einmal seine Männer mitten im Einsatz und erschießt symbolisch das gesamte Alpha-Team: „Bang, bang, bang, bang – was zum Teufel macht ihr hier, ihr seid verdammt noch mal alle tot!“

Das sind die Momente, da hört Captain Vogel sicherlich immer wieder, so wie vom biblischen Motto seiner Division vorgegeben, die Stimme des Herrn: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“ Denn dass sie bald gehen werden, daran haben nur noch wenige Soldaten und Offiziere auf Range Nummer sechs ernsthafte Zweifel.