Der große Zwang zum Konsens

Seit gestern ist der Bundestagswahlkampf endgültig vorbei. Rot-Grün ist darauf angewiesen, im Bundesrat um die Gunst der Opposition zu werben

Die Zeichen stehen schon deshalb auf Kooperation, weil anderthalb Jahre keine wichtigen Wahlen drohen

aus Berlin RALPH BOLLMANN, HANNES KOCH und LUKAS WALLRAFF

Kaum hatten die Wahllokale geschlossen, da kamen auch schon die Angebote für eine informelle große Koalition. Zu einer „konstruktiven Zusammenarbeit“ im Bundesrat forderte die Bundesministerin und niedersächsische SPD-Landesvorsitzende Edelgard Bulmahn die Parteien auf, „die gerade gewonnen haben“. Und CDU-Chefin Angela Merkel beteuerte: „Wo immer die Bundesregierung vernünftige Vorschläge macht, werden wir sie unterstützen.“

Damit beginnt jedoch sofort ein neuer Kampf. Für den SPD-Politiker Christoph Zöpel kommt es nun darauf an, „die Deutungshoheit zu behalten, wer eigentlich das Land regiert“. Nur wie? Wenn es nach Zöpel geht, soll der Kanzler offenbar nicht mehr zu jedem Thema seinen Senf dazugeben. Der Exstaatsminister im Auswärtigen Amt sagte der taz, er wünsche sich von seiner Parteispitze „weniger, aber konsistentere Signale“. Wie so eines aussehen könnte, darüber gingen die Meinungen auf der schlecht besuchten SPD-Wahlparty auseinander. „Der Kanzler soll den Gewerkschaftern jetzt mal vors Schienbein treten“, forderte ein Berliner SPD-Mitglied. Ein anderer hofft genau das Gegenteil: „Die Linken müssen wieder lauter werden.“

Ähnlich gespalten waren gestern Abend die Grünen. Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke sagte, sie habe „keine Angst vor einer großen Koalition in Berlin“ – und bestätigte gerade dadurch das Unwohlsein des kleineren Koalitionspartners. Einerseits. Andererseits fand ein Mitglied des grünen Bundesvorstands das Wahlergebnis „nicht unbedingt schlecht“. Bei den anstehenden Reformen des Sozialstaats lasse sich mit der Union mitunter mehr bewegen als mit den „Betonsozen“. Lockerung des Ladenschlusses, des Kündigungsschutzes, Abschaffung der Zwangsmitgliedschaft in Handelskammern – bei diesen und anderen Punkten wird sich die Mehrheit der grünen Fraktion die Hände reiben, wenn die CDU der SPD das abringt, was der Koalitionspartner nicht zu Wege gebracht hätte.

So oder so – an einer Zusammenarbeit führt kein Weg vorbei. Die Union hat ihre Mehrheit im Bundesrat von knappen 35 Stimmen auf nunmehr 41 Stimmen aus 9 Ländern ausgebaut. Ihr stehen nur noch 5 SPD-regierte Länder mit zusammen 21 Stimmen gegenüber; der neutrale Block der großen Koalitionen umfasst weiterhin die 7 Stimmen Brandenburgs und Bremens.

Allerdings beschert das gestrige Wahlergebnis der Union noch keine Zweidrittelmehrheit, mit der sie auch jene Bundestagsbeschlüsse torpedieren könnte, die einer Zustimmung der Länderkammer nicht bedürfen. Auch deshalb kann sich die Opposition auf einen Sturz der rot-grünen Bundesregierung vorerst keine Hoffnungen machen. Und eine Dauerblockade bis zur nächsten Bundestagswahl werden die Wähler kaum honorieren.

Die Zeichen stehen auch deshalb auf Kooperation, weil anderthalb Jahre lang keine wichtigen Wahlen drohen. Zwar wird in diesem Jahr noch in Bremen und Bayern gewählt – aber in Bremen regiert ohnehin schon eine Große Koalition, und in Bayern gibt sich kein Sozialdemokrat der Illusion hin, man könne die absolute CSU-Mehrheit stürzen.

Schon in den letzten Tagen vor der Wahl hatten die Spitzenpolitiker der Parteien begonnen, ihre Gefolgschaft auf die neue Lage einzustimmen. So klar hatten alle Umfragen die Union in Führung gesehen, dass die Sozialdemokraten nicht einmal die Fassade einer Siegeszuversicht aufrechterhielten. „Vermutlich werden die Ergebnisse nicht ergreifend ausfallen“, kündigte SPD-Generalsekretär Olaf Scholz bereits vor der Wahl an.

Nur einer wird von der neuen Konsensstimmung im Land nicht profitieren. „Damit ist Rau weg“, war die erste Reaktion eines SPD-Mitglieds in Berlin nach den ersten Hochrechnungen. Bundespräsident Johannes Rau braucht sich jetzt gar keine Gedanken mehr darüber zu machen, ob er für eine zweite Amtszeit zur Verfügung steht. Denn die Bundesversammlung, die den Präsidenten wählt, ist zur Hälfte aus Vertretern der Landesparlamente zusammengesetzt. Und die hauchdünne Mehrheit von 606 zu 599 Stimmen, die das „linke Lager“ bis gestern um 17.59 Uhr rein rechnerisch besessen hätte, ist seit 18.01 Uhr dahin.