Jagd nach Utopien

Athletic Bilbao beendet San Sebastiáns Siegesserie, und Trainer Jupp Heynckes möchte bis zur Rente bleiben

BILBAO taz ■ Immer wieder geht Jupp Heynckes hinaus in den Regen. Er setzt die Kapuze seiner Windjacke nicht auf, er spürt die Tropfen offenbar gar nicht, sondern nur, dass es eine große Nacht werden könnte. Die Ersatzbank mit ihrem schützenden Dach hinter sich lassend, tritt er an den Spielfeldrand, und da packt es auch ihn, der 57 ist, mit leiser Stimme redet, Zurückhaltung und gutes Benehmen über alles schätzt: Er reißt das Knie hoch, als Verteidiger Prieto mit einem furiosen Tackle den Ball jagt, er klagt mit weit ausgebreiteten Händen dem schwarzen Himmel, dass sein Mittelfeldmatador Tiko ein törichtes Foul begeht. Es ist endlich wieder eine Nacht, in der sich selbst Trainer Heynckes nicht gegen den Fußball von Athletic Bilbao wehren kann. Er schüttelt einen durch.

Schönheit ist etwas anderes, doch im Gegensatz zum restlichen Spanien haben sie im Stadion San Mamés in Bilbao solche Auftritte wie am Sonntag schon immer geliebt. Mit roher Energie, wildem Entschluss und endloser Courage besiegte Athletic im baskischen Derby den Tabellenführer der spanischen Liga Real Sociedad San Sebastián 3:0. Für La Real, die Überraschung der Saison im europäischen Spitzenfußball, war es am 20. Spieltag die erste Niederlage – und für Heynckes erst einmal nicht mehr als die Rückkehr der Hoffnung. „Dieses Jahr müssen wir leiden“, hat er schon früh in der Saison erkannt. Fünf Punkte vor den Abstiegsplätzen liegt Athletic nun, 13. in der Tabelle. „Wir haben die Erwartungen nicht erfüllt“, sagt Heynckes, vor allem die übersteigerten in der Stadt, wo viele Athletic noch immer für einen Spitzenklub halten, obwohl die letzte Meisterschaft 19 Jahre her ist.

Vor den unrealistischen Ansprüchen in Bilbao steht Heynckes, der in seiner Trainerkarriere alles gesehen und das meiste gewonnen hat, auch in seinem insgesamt vierten Jahr bei Athletic noch immer staunend. „Die jagen hier Utopien nach“, sagt er und empfiehlt, „endlich den Realitäten in die Augen zu schauen“. Athletic hat nur vier gestandene Klassespieler, allen voran den auch im Derby überragenden Linksaußen Joseba Etxeberria, und ansonsten, sagt Heynckes, „zu viele ältere Spieler, die über ihren Zenit hinweg sind“, wie Kapitän Julen Guerrero. Was ein Team „ohne klare Hierarchien, ohne Machertypen“ ergibt.

Mal schnell wie andere Klubs einen Verteidiger aus Argentinien einkaufen, kann Heynckes nicht, da Athletic auch im 21. Jahrhundert als weltweit einziger Profiklub an seiner Richtlinie festhält, nur Spieler aus der Region einzusetzen; ein Tribut an den baskischen Nationalismus. Selbst dass die baskische Konkurrenz aus San Sebastián dabei ist, mit fünf Ausländern und sogar erstmals seit 35 Jahren mit einem nichtbaskischen Spanier in der Elf die Liga zu erobern, führt Athletic nicht in Versuchung, seine Doktrin zu überdenken. „Das Thema ist Tabu“, sagt Heynckes. So macht er das, was er kann: das Team mit Talenten auffühlen. Sechs, sieben Jungen aus der Reserveelf hat er in anderthalb Jahren zu Erstligaspielern befördert. „Und dafür bezahlen wir“, sagt Heynckes: „Denn Junge machen Fehler.“

Doch Vorwürfe sucht man vergebens in seiner Stimme. Er hat um die Bedingungen ja gewusst, als er im Sommer 2001, gut ein Jahrzehnt nach seiner ersten Etappe, ins Baskenland zurückkam. Im Sommer läuft sein Vertrag aus, aber er sagt: „Ich bin mit der Absicht nach Bilbao gekommen, hier meine Karriere zu beenden.“ Die Idee hat er noch immer. Dass der VfL Wolfsburg ihn gerne anstellen würde, „ist schön zu hören, aber ich habe da mit niemanden geredet und werde auch mit niemanden reden“.

Kurz darauf ist er schon wieder bei den vielen Talenten in der Jugendelf. Seine Stimme wird schwärmerisch. „Athletics Zukunft ist sicher.“ Bloß die Gegenwart will erst einmal bewältigt sein. Als Ezquerro in der Nachspielzeit das 3:0 schießt, gönnt sich Heynckes draußen im Regen eine kleine Siegesgeste. Er steckt die Hände kurz in die Jackentasche. Für eine Woche hat er Ruhe. RONALD RENG