Unter Barbaren

„Der Ton ist mir geradezu ekelhaft in dieser letzten Zeit“: Unter dem Titel „Das verlassene Haus“ erscheint das Tagebuch, das der Literaturwissenschaftler Werner Vordtriede im Exil schrieb

von WERNER JUNG

Wenige Tage vor seinem 29. Geburtstag am 17. März 1944 notiert der Literaturwissenschafter, Germanist und Komparatist Werner Vordtriede: „Der Ton meines Tagebuchs ist mir geradezu ekelhaft in dieser letzten Zeit. Es hat völlig seinen einzig sinnvollen Charakter verloren: den einer sehr geheimen und notwendigen Zuflucht […].“

Der das hier so indigniert feststellt, ist der Ende 1938 ins amerikanische Exil gelangte Sohn einer engagierten sozialistischen Schriftstellerin und Journalistin, Käthe Vordtriede. Mit dem Erhalt des Visums für die USA, woran sich nach einer ersten kürzeren Reise, der Wiederkehr nach Europa und mehrmonatigem Lageraufenthalt in Frankreich 1939 die in Amerika verbrachten Kriegsjahre schließen, beginnen die Tagebuchaufzeichnungen, die am Ende mit dem ersten Wiedersehen der Schweiz und Nachkriegseuropas 1947 abbrechen.

Zwar erscheint Vordtriede bei seiner Rückkehr die Schweiz als Heimat, ja sogar als „Paradies“ – aber kann man dort auch leben? Vordtriede jedenfalls kehrt erneut in die Staaten zurück, wo er bis 1961 zunächst in Princeton, die längere Zeit dann in Madison, Wisconsin, als Professor für spanische, französische und deutsche Literatur unterrichtet, um danach noch bis 1976 in München zu lehren.

Die Lektüre dieses faszinierenden Tagebuchs, das nicht nur einen Reflex der europäischen (Kriegs-)Vorgänge bildet und ein Emigrantenschicksal beredt macht, sondern darüber hinaus noch ebenso in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht wie auch – noch allgemeiner – in kultur- und literarhistorischer Perspektive bedeutungsvoll ist, unterstreicht vor allem jene Einschätzung in dem von Dieter Borchmeyer beigesteuerten Nachwort: dass uns in Vordtriede weniger der Typus des Fachgelehrten als vielmehr „ein heißhungriger Leser“ begegnet.

Werner Vordtriede, dieser Homme de Lettres, kommt als Unbehauster in die Staaten, mit leichtem Gepäck und überaus skeptisch bis ablehnend zur amerikanischen Kultur, Gesellschaft wie Geselligkeit eingestellt, woran sich bis zum Schluss nur wenig geändert hat. Da ist etwa von der „barbarischen Fremdheit“ Amerikas die Rede und einer geradezu „unbeschreiblichen Hässlichkeit“, wiewohl er durchaus zu akzeptieren bereit ist, „dass durch meine Verpflanzung, trotz dadurch verursachter großer Stockungen und Vereitelungen, eine große Bereicherung für mich geschah. Wenn ich nur an mein vieles Übersetzen vom Englischen denke, das meiner Ausdruckskraft sicher zugute gekommen ist.“

Vordtriede lebt im Wort. Scheinbar mühelos eignet er sich Fremdsprachen und fremde Literatur an. Man muss ihn wohl als Erotiker des Wortes bezeichnen, der bei aller wachen Aufmerksamkeit für die Gesellschaft und die Gegenwart vor allem den (Erinnerungs-)Spuren der Literatur folgt, zuweilen wahllos, dann wieder gezielt ebenso die Klassiker der Weltliteratur studiert wie literarische Neuerscheinungen zur Kenntnis nimmt.

Daher ist Vordtriedes Tagebuch auch ein fortlaufender Bericht über Lektüren, schreibt er hellsichtige Anmerkungen zu jüngst Erschienenem und beobachtet genauestens auch die neuere deutsche Literatur: Brochs „Tod des Vergil“ spiele sich gleichsam „auf der seelischen Netzhaut Vergils ab“, was Vordtriede fasziniert, während ihm Jüngers „Gärten und Straßen“ „zuwider ist“, zum Teil „peinlich wegen der Symbolsuche im Alltäglichen“. George ist dagegen sein großer Stern, Beer-Hoffmann (und mit ihm die Wiener Moderne), der für ihn im Exil häufig Gesprächspartner ist, einer der wichtigsten Bezugspunkte, und die Lektüre Stifters begleitet ihn längere Zeit.

Über die Ängste und Nöte des Exils, eine Zeit unsicherer Existenz und unentschiedener Haltung gegenüber dem amerikanischen Unterrichtswesen und seinen Möglichkeiten hinweg sucht und findet Vordtriede seine Heimat in der (deutschen) Sprache – dem einzigen Haus, wie Borchmeyer im letzten Satz seines Nachwortes schreibt, „in dem er stets heimisch war und das er gegen jeden unbefugt Eindringenden verteidigte“.

Werner Vordtriede: „Das verlassene Haus. Tagebuch aus dem amerikanischen Exil.“ Libelle, Konstanz 2002, 500 Seiten, 29,90 €