Glück im Unglück

Kindheit und Jugend unter erschwerten Bedingungen: Davon handeln die Filme, die das Festival „Ausnahmezustand – Verrückt nach Leben“ im Filmtheater am Friedrichshain präsentiert

VON DETLEF KUHLBRODT

Manchmal hat man das Gefühl, jede Autobahnausfahrt führe zu einem neuen Festival. Und jedes Filmfest versucht, das an sich herauszustellen, was andere nicht haben: Das Festival „Ausnahmezustand – Verrückt nach Leben“, das gestern im Filmtheater am Friedrichshain eröffnet wurde, ist die Filmversammlung mit den meisten Spielorten in Deutschland. Die Tournee von „Ausnahmezustand“ führt durch „60 bis 80“ deutsche Städte.

Thematisch geht es in den zwölf aktuellen nationalen und internationalen Filmen, mal dokumentarisch, mal als Spielfilm, um Kindheit und Adoleszenz unter erschwerten Bedingungen; um Kindersoldaten im Sudan, um die Kindheit mit einer depressiven Mutter, um die Rekonvaleszenz nach einer psychischen Erkrankung („Recovery“), um Kinder, die sich Rat und Hilfe im Internet suchen („Emoticons“), und um junge Frauen und Mädchen, die sich, um mit ihrer seelischen Not fertig zu werden, mit Rasierklingen, Messern und Scherben verletzen („Lebenszeichen“).

Der holländische Film „Übergeschnappt“ (2005) von Martin Koolhoven nähert sich seinem Thema auf komödiantische Weise. Aus der Perspektive des Kindes erzählt, mit fröhlicher Musik, bunten Farben, schnellen Schnitten geht es um ein schwieriges Thema: Die neunjährige Bonnie lebt mit ihrer Oma und ihrer depressiven Mutter zusammen. Die lebenstüchtige Oma hält die Familie zusammen. Als sie stirbt, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Die Mutter kommt nicht mehr aus dem Bett raus, weigert sich, ihre Medikamente zu nehmen, holt ihre Tochter im Pyjama aus der Schule ab. In ihren manischen Phasen verfällt sie dem Kaufrausch. Das Jugendamt wird aufmerksam. Nach einem besonders manisch-schönen Coup der Mutter soll das Kind ins Heim. Eine schrullige Nachbarin sorgt für ein gutes Ende.

Man könnte allerlei kritisieren an der Bearbeitung des Themas: Im Gesicht der Mutter finden sich keine Spuren der seelischen Erkrankung; die große Entfremdung, die Kinder psychisch kranker Eltern meist erleben, wird nur sehr zart angedeutet; die Umgebung, in der alles geschieht, ist extrem verständnis- und liebevoll –, trotzdem gefiel mir der Film recht gut. Vielleicht auch, weil er das Thema Tod sehr schön und für Kinder gut verständlich behandelt. Beim Gucken hatte ich das Gefühl, Kinder könnten vielleicht besser als Erwachsene mit dem Tod umgehen, weil sie noch nicht so lange auf der Erde leben.

Der deutsche Film „Nacht vor Augen“ von Brigitte Maria Bertele, der vor zwei Monaten mit dem „First Steps Award“ für den besten deutschen Nachwuchsspielfilm ausgezeichnet wurde, erzählt von dem 25-jährigen Bundeswehrsoldaten David und wie er nach seinem Afghanistan-Einsatz nach Hause kommt. Alles scheint toll zu sein: Seine hübsche Frau Kirsten erwartet ihn in einer neuen schicken Wohnung; die Mutter ist stolz auf den Sohn. Nur er selbst fühlt sich furchtbar. Kann nicht mehr mit seiner Freundin schlafen, macht ins Bett, Bilder des Krieges schrecken ihn in der Nacht auf. Dinge sind geschehen, über die er mit niemandem sprechen kann.

Die meiste Zeit verbringt er mit seinem achtjährigen Halbbruder Benny, der ihn bewundert. Benny wird häufig von Klassenkameraden verkloppt; David versucht ihm männliche Tugenden anzutrainieren. Mutproben führen ins Unglück. Die ungleiche Freundschaft ist eine Geschichte des seelischen Missbrauchs, den die Regisseurin sensibel und genau beschreibt.

Auch der amerikanische Dokumentarfilm „War Child“ von Christian Chrobog erzählt vom Krieg. Es geht um die Geschichte des aus dem Sudan stammenden Rappers Emanuel, der mit sieben zum Kindersoldaten ausgebildet wurde und auf der Seite der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) im Bürgerkrieg kämpfte. 1991 gelingt ihm mit 400 weiteren Kindern die Flucht. Nur zwölf von ihnen überleben. Eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation „Street Kids“ schmuggelt den kleinen Emanuel nach Kenia, wo er endlich die Schule besuchen kann. Seitdem versucht er seine Erfahrungen musikalisch zu verarbeiten, ist mittlerweile in ganz Afrika ein Star und versucht, sudanesischen Jugendlichen zu helfen.

Die recht konventionelle Dokumentation überzeugt durch die Persönlichkeit und musikalische Kraft ihres Helden, der dadurch irritiert, dass er häufig ein T-Shirt mit den Initialen der SPLA trägt.

Im etwas hölzern und PR-mäßig geratenen Festivalkatalog wird von 20 Prozent aller Heranwachsenden in Deutschland gesprochen, die als psychisch auffällig gelten, von 1,5 Millionen Kindern, die mit psychisch kranken Eltern zusammenleben. Die Zukunft liege nicht in neuen Technologien, „sondern in unseren Kindern und Jugendlichen. Erwachsene müssen ihnen Eigenschaften vermitteln, die sie brauchen, um sich ein Leben in Zufriedenheit und Optimismus aufzubauen. Das ist die beste Investition in die Zukunft.“

Wahrscheinlich ist das Richtige gemeint. Man kann aber auch fragen, ob es der richtige Weg ist, den größeren Teil der real existierenden Wirklichkeit zu ignorieren und fast ausschließlich Filme mit Happy End zu zeigen.

Programm unter www.ausnahmezustand-filmfest.de