„Wegsperren bringt wenig“

Jochen Goerdeler, Experte für Jugendkriminalität, setzt auf unspektakuläre Sozialarbeit

taz: Herr Goerdeler, eine kleine Zahl jugendlicher Intensivtäter ist für die Mehrzahl der von Jugendlichen begangenen Straftaten verantwortlich. Wie viele derartige Intensivtäter gibt es eigentlich in Deutschland?

Jochen Goerdeler: Der Begriff „Intensivtäter“ ist problematisch, weil es keine anerkannte Definition gibt. Die angesprochene Gruppe dürfte bundesweit aber wohl einige hundert Kinder und Jugendliche umfassen.

Gibt es ein ganz bestimmtes Muster, das zu derart intensiver Delinquenz führt?

Nein, man kann nur im Nachhinein feststellen, dass bestimmte Risikofaktoren typischerweise auftreten: Armut, soziale Ausgrenzung, Gewalterfahrung im familiären Umfeld, Probleme in der Schule oder Ausbildung. Aber diese Faktoren taugen nicht als Prognoseinstrument. Denn weniger als die Hälfte der Jugendlichen, auf die sie zutreffen, werden überhaupt polizeilich auffällig.

Wie sollte die Gesellschaft auf jugendliche Intensivtäter reagieren?

Man muss vor allem verhindern, dass Jugendliche überhaupt massiv straffällig werden, indem frühzeitig mit auffälligen Jugendlichen und ihren Familien gearbeitet wird.

Wie kann das konkret aussehen?

Wenn ein Kind Sprachprobleme in der Schule hat, muss es Sprachförderung bekommen, statt es mit der Polizei in die Schule zu fahren. Wenn eine Familie mit der Erziehung überfordert ist, muss ihr dabei geholfen werden, statt ihr Bußgelder anzudrohen. Heute wird viel zu schnell über Zwang und Repression gesprochen, ohne die eher unspektakulären Methoden der Jugend- und Familienhilfe ernst zu nehmen. Im Übrigen ist Jugendkriminalität in den meisten Fällen ohnehin episodenhaft und klingt nach einigen wilden Jahren von selbst wieder ab – ziemlich unabhängig von der Art der Sanktionen. Das gilt auch für die Intensivtäter.

Solange ein Jugendlicher seine Umgebung drangsaliert, muss aber wohl mehr passieren als nur Sprachförderung …

Natürlich, das Jugendstrafrecht bietet viele differenzierte Ansätze, von gemeinnütziger Arbeit und Aggressionstraining bis zum Täter-Opfer-Ausgleich und sozialpädagogischer Einzelbetreuung. Wichtig ist nur, dass die Reaktion schnell erfolgt und dass Polizei und Jugendämter ihre Maßnahmen koordinieren.

Wie sehen denn die Erfolgsquoten solcher Maßnahmen aus?

Darüber weiß man zu wenig, weil die Begleitforschung bisher vernachlässigt wurde.

Im Jugendstrafvollzug liegt die Rückfallquote bei 60 bis 90 Prozent …

Schon diese Zahl zeigt, dass Wegsperren wenig bringt. Außerdem lernt man in der gewaltgeprägten Subkultur von Haftanstalten wenig über soziales Verhalten. Haft sollte daher vermieden werden, wenn das möglich ist.

Lehnen Sie auch geschlossene Heime für strafunmündige Intensivtäter ab?

Auch sie sind problematisch. Geld, das in geschlossene Einrichtungen geht, fehlt in der Familien- und Jugendhilfe, wo derzeit ganz kurzsichtig gespart wird.

Muss man aber manche Jugendliche nicht aus ihrer prekären Umgebung herausnehmen, damit sie zum Beispiel überhaupt die Chance haben, einen Schulabschluss zu bekommen.

Natürlich. Aber deshalb muss es doch keine haftähnliche Einrichtung sein. Auch die Unterbringung in einem weit entfernten offenen Heim kann da helfen. Es türmen im Übrigen mehr Insassen aus geschlossenen Heimen als aus offenen.

Was halten Sie von der so genannten Reisepädagogik?

Die ist sehr intensiv, wenn ein Jugendlicher ein halbes Jahr mit einem Betreuer unterwegs ist, der rund um die Uhr auf ihn einwirkt. Mit Urlaub hat das nichts zu tun. Und wenn die Reise nach Sibirien geht statt in die Südsee, dann kann man auch öffentliche Akzeptanz erhalten. INTERVIEW:
CHRISTIAN RATH