Bayern veredelt Law-and-Order-Pädagogik

Edmund Stoiber schlägt den Marsch in die Fünfzigerjahre vor: Beurteilung des Schülercharakters über Kopfnoten. Das Zensur- und Auslesesystem soll in die zweite Klasse vorverlegt werden. Leistungsdruck hält im Kindergarten Einzug. Wer in die Schulschubladen nicht passt, wird von der Schulpflicht befreit

aus München JÖRG SCHALLENBERG

Kopfnote. Allein das Wort klingt schon hässlich. Ungefähr so wie Kopfnuss. Einst sollten diese Noten verraten, wie sich denn Schülerinnen und Schüler im Unterricht betragen haben und ob sie immer fleißig gelernt haben. Die Einsicht, dass eine einfache Ziffer nicht gerade angemessen ist, um den Charakter eines Schülers zu beurteilen, führte zu ihrer Abschaffung. Die Kopfnote verschwand in den Sechziger- und Siebzigerjahren bundesweit – auch in Bayern.

Seit vergangener Woche ist sie wieder da. In seiner Regierungserklärung hat der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) eine umfangreiche Bildungsoffensive angekündigt, die unter anderem auf Kopfnoten als Mittel für die Grundschule der Zukunft setzt. Allerdings klingt es nun etwas anders. Statt Fleiß und Betragen soll jetzt das soziale Verhalten benotet werden.

Die CSU will auch früher Ziffernoten vergeben. Spätestens ab der zweiten Klasse sollen Zeugnisse mit Noten vergeben werden. Das sei kindgerecht – meint Stoiber: „Kinder wollen, dass ihre Leistungen ernst genommen werden.“ Das könnten sie aber nur durch den Vergleich über Ziffern. Keinesfalls aber durch die oft zu nett formulierten Wortgutachten, die zur Zeit ein Zeugnis ersetzen. Die Eltern haben natürlich auch etwas davon. Denn zum einen werden sie dann nicht erst, wie bisher, in der dritten Klasse von den bösen Noten überrascht, sondern gewöhnen sich gleich daran. Zum anderen kann man sich dann ja bereits ab der zweiten Klasse überlegen, auf welche Schule der Nachwuchs einmal gehen soll.

Den zu erwartenden Aufschrei von Opposition, Schüler-, Lehrer- und Elternverbänden wollte dann sogleich Stoibers Bildungsministerin Monika Hohlmeier dämpfen, die ihren Chef erst einmal herunterinterpretierte: „Von einer schlichten Rückkehr zum System der Fünfziger- und Sechzigerjahre kann nicht die Rede sein.“ Vielmehr gehe es bei der neuen Notengebung um eine differenziertere Leistungsbewertung, die auch für Eltern gut verständlich sein müsse. So sei eine einzige Note für das Fach Deutsch zu wenig aussagekräftig. Zudem sollten künftig Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit berücksichtigt werden – ob in den Kopfnoten oder fachbezogenen Zensuren ist allerdings unklar, denn die genaue Ausgestaltung des neuen Notensystems muss erst noch erarbeitet werden. Im kommenden Sommer sollen die Details verkündet werden. Die Einführung des neuen Systems ist laut Hohlmeier für das Schuljahr 2004/2005 geplant.

Bereits jetzt ist aber klar, wohin Stoibers Politik der fortschrittlichen Rückschritte führen soll. „Deutschland braucht Leistungseliten“, verkündete er in seiner Regierungserklärung. Er bezog das zwar auf die Universitätsausbildung – ließ aber keinen Zweifel daran, dass „Grundlagen dafür exzellente Schulen“ sind. Da macht es Sinn, dass Leistung möglichst früh – scheinbar – möglichst exakt messbar ist. So sieht das Bildungsprogramm der CSU auch jahrgangsbezogene Leistungstests der Schulen vor, damit „die Schulen in Bayern ermuntert werden, miteinander um die besten Leistungen zu wetteifern“. Wo es nicht so gut läuft, sollen dann mobile Hilfstruppen des Bildungsministeriums als „Evaluationsteams“ vor Ort für eine Verbesserung der Ergebnisse sorgen.

Deshalb muss, wie Stoiber schön formulierte, natürlich auch das Recht jedes Schülers auf störungsfreien Unterricht“ gewährleistet werden – was bedeutet, dass renitente Hauptschüler der Schule verwiesen und ganz von der Schulpflicht ausgeschlossen werden können. Was dann mit ihnen geschehen soll, weiß allerdings noch niemand so genau, denn geeignete therapeutische Einrichtungen fehlen bislang. (Siehe taz von gestern.)

Die frechste Gegenwehr zu Stoibers Plänen kam nicht von der wie üblich dröhnenden Opposition, sondern von den Piepmätzen der Landesschülervertretung. „Der Hunger nach Bildung ist uns nicht vergangen“, sagte Sonya Popa-Henning aus Würzburg, „aber die bayerische Bildungspolitik haben wir satt.“ Warum? Weil es bedenklich ist, Schüler von der Schule auszusperren, sagte die 18-jährige Schülerin der taz. Und weil es nicht nötig sei, „schon ABC-Schützen der Auslesemaschinerie Bayerns zu unterwerfen.“ Popa-Henning nennt Stoibers Plan knapp: „Ein pädagogisches Desaster.“

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zeigte sich geschockt, dass Stoiber die Frechheit besaß, sich mit seinem Bildungsplan auf Pisa zu berufen. Noten zum Beispiel gebe es beim Pisa-Sieger Finnland erst in der neunten Klasse, sagte eine Sprecherin.

Die geplante Schulreform wird solcher Widerstand aber kaum aufhalten können. Was Stoiber von seinen politischen Gegnern hält, machte er bereits während seiner Regierungserklärung deutlich. Den Vorschlag der SPD, das Sitzenbleiben abzuschaffen, verhöhnte er „als Idee einer Opposition, die hier im Landtag seit 40 Jahren sitzenbleibt“. So etwas wäre nicht einmal ihm selbst eingefallen – obwohl er doch selbst einmal sitzen geblieben ist.