Im Schlachthof der Popkultur

Mit „Chicago“ belebt wieder einmal ein Film das etwas angestaubte Genre Musical. Stars wie Catherine Zeta-Jones und Richard Gere funktionieren in der engen Choreografie erstaunlich gut

von HARALD FRICKE

Musicals haben einen guten Ruf hierzulande. Aber warum? Busladungen voll erlebniswütiger Menschen mittleren Alters stellt man sich dabei vor, die für einen Abend quer durch die Bundesrepublik, mal nach Hamburg und mal nach Schwaben, gekarrt werden, dort zwei Stunden lang mit mäßig begabten Sängern, Sängerinnen und einer nicht enden wollenden Chorus Line torpediert werden, bevor es nach dem Kulturvollzug in ein Ibis-Hotel geht – alles inklusive.

Dann sitzt man selbst im Kino, sieht Rob Marshalls Produktion von „Chicago“, nach einer Vorlage des Choreografen Bob Fosse aus den 70ern, wippt bei den ersten Takten „All that Jazz“ mit dem Fuß, starrt Catherine Zeta-Jones ungeduldig auf die langen Beine, schließt Renee Zellweger als blondiertes Dummchen, das im Affekt zur Mörderin wurde, ganz in sein Herz und möchte am liebsten aufspringen und Ovationen klatschen, als Richard Gere seine Stepptanznummer beendet. Das süße Gift des sorglosen Singalong und der großen Gefühle, die da puppenäugig und rotbäckig zur Schau getragen werden, sie haben auch den eigenen Körper fest im Griff.

Aber warum? Wieso ist ausgerechnet ein konventionell gefilmtes Musical der Prohibitionszeit zum Erfolg geworden, das für immerhin acht Golden Globes nominiert wurde, bei den Oscars im März als Favorit gilt und nun die Berlinale eröffnet?

Da ist zunächst das Revival eines Genres. Mit „Moulin Rouge“ vor zwei Jahren hat das etwas angestaubte Musical nicht bloß popkulturell an diskursivem Boden gutgemacht. Das ist der Durchmarsch der Clipästhetik: Immer mehr Filmregisseure lernen bei MTV, bevor sie nach Hollywood wechseln, um dort ihre Erfahrungen mit der Visualisierung von Musik auf andere Bereiche auszuweiten. Die Geschwindigkeit der Schnitte, die im Video oft bloß zur Illustration der Beats dienen, hat auch das Kino zu einem Ort gemacht, wo Bilder einen Rhythmus haben, wo Sichtbarkeit wieder verstärkt durch Bewegung geformt wird.

Zugleich hat sich Musik im Film vom stimmungs-, vor allem verkaufsfördernden Beiprodukt zu einem eigenständigen Medium entwickelt, bei dem das Casting der Soundtracks mittlerweile so wichtig ist wie die richtige Besetzung der Rollen. So war etwa Herbie Hancocks dark swingender Techno-Jazz zu Steven Soderberghs „Traffic“ ein Soundscape, das den Plot akustisch verdichtete und vorantrieb. Musicals wie „Dancer in the Dark“, „Moulin Rouge? oder selbst „Huit Femmes“ ziehen ihre Attraktivität mit aus diesem Selbstverständnis, mit dem Kino nicht länger nur gesehen, sondern immer auch gehört wird.

Bei „Chicago“ liegt der Triumph darüber hinaus in der Wahl der Stars. Nie hätte man von ihnen erwartet, dass sie in der Showtime-Mechanik aus holzschnittartigen Gesten und wie am Fließband abschnurrenden Bewegungen funktionieren würden. Nicht von Catherine Zeta-Jones, die als Vaudeville-Girl Velma Kelly im Gefängnis einsitzt, weil sie ihren Mann mit ihrer Schwester beim Tête-à-Tête ertappt und umgebracht hat. Die starren Konturen, nach denen Zeta-Jones als kühler Vamp agiert, machen ihre Verwandlung erst vollkommen. Zum Ragtime der frühen Dreißigerjahre ist sie plötzlich ganz und gar Image, ein Klischee vergangener Tage, das wie ein altes Foto in der fernen Zeit aufgeht. Auch Richard Gere holt als windiger Rechtsanwalt Billy Flinn, der seine Mandantinnen vor Gericht nach Art eines Operettenbuffo verteidigt und dabei jeden Prozess gewinnt, die Faszination an seiner Figur aus der mimetischen Aneignung des Gestern: Nicht von ungefähr kontrastiert sein silbergraues Haar mit den sepiatonigen Anzügen, Holzpaneelen und Gamaschen; nicht von ungefähr auch klingt seine Gesangsstimme wie durch einen Grammofontrichter gepresst.

Doch all das wird zur Nebensache, zur mannschaftsdienlichen Kabale, die in einem ornamentalen Reigen um Renee Zellweger im Zentrum kreist. „Chicago“ ist nicht nur die Geschichte der von ihr verkörperten Roxie Hart, die nach dem Mord am Geliebten dank der Anweisungen Flinns nicht auf dem elektrischen Stuhl landet, sondern auf der Showbühne. Es scheint, als würde Zellweger selbst es genießen, wie sie in dieser Dramaturgie von der grauen Maus zum silberlaméglitternden Star aufblüht. Indem sie den verschmitzten Charme einer Shirley MacLaine auffährt und dann bis zum Schluss immer mehr Monroe beimischt, arbeitet sie sich quasi im Schnelldurchlauf an beiden extrem großen Ikonen Hollywoods ab. Die Rasanz, mit der Zellwegers Entpuppung fast nebenbei geschieht, ist wiederum Motor des Musicals. Schließlich sind 15 Minuten fame and glory auch für Roxie als tragische Liebesmörderin vor Gericht sicher, so will es die Logik des „All that Jazz“, die Wirklichkeit mit Schein aushebelt – gerade in Chicago, das seinerzeit Schlachthof der Welt und ein Armenhaus für Immigranten war. Den Weg ganz nach oben geht Zellweger leicht, wie auf Lustkissen. Man geht ihn gern mit, warum auch nicht.

Heute, 15 Uhr und 18.30 Uhr UFA-Royal Palast, 22.30 Uhr International