„Alarm, das sind hier Amihasser“


aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Aus dem Internetforum der Europäischen Schule Brüssel: „Ich lehne mich auf gegen den Zynismus, der in unserer heutigen Gesellschaft üblich ist: Einiger Verbrechen zu gedenken und anderer nicht, je nach internationalem Gewicht des Herkunftslandes der Opfer …“

Im September letzten Jahres prallten im Chatroom der Elternschaft einer der drei Brüsseler Europaschulen die Meinungen aufeinander wie noch nie: Sollte man gemeinsam mit amerikanischen Schülern der Opfer des 11. September gedenken oder nicht?

Maria, Woody, Betsy, Josh und Krista aus der besonders von US-Amerikanern besuchten „Internationalen Schule“ in Brüssel begannen damals gerade mit den Vorbereitungen auf die jährliche Reise nach Den Haag. Die fünf engagieren sich im UNO-Arbeitskreis ihrer Schule. Da sie sich besonders für Politik interessieren, gehörten sie auch zu der Delegation, die zu der Gedenkfeier an der Europaschule geschickt wurde.

Maria und ihre Freunde sind darin geübt, in fremde Rollen zu schlüpfen und aus anderer Perspektive auf die Welt zu sehen. „Internationaler Bürgersinn“ ist eines der Erziehungsziele ihrer Eliteschule, die mehr als 20.000 Euro Schulgeld pro Jahr kostet. Einmal im Jahr wird Den Haag zur Bühne für dieses außergewöhnliche Rollenspiel: Politisch interessierte Schüler reisen aus allen Winkeln der Erde an, um das Debattieren, Verhandeln und das Austarieren von Interessen unter realistischen Bedingungen zu üben. Diesmal standen Abrüstung, der Frieden im Nahen Osten, das US-Embargo gegen Kuba und Umweltschutz auf der Tagesordnung. Aber auch das Thema: „Die Zuordnung bestimmter Staaten durch die USA zu einer Achse des Bösen“. Maria, Betsy und Woody spielten die Delegation aus Tansania.

Aus dem Internetforum der Europäischen Schule Brüssel: „Wann gedenken wir des Jahres, wo das Embargo gegen Irak verhängt wurde? Wann gedenken wir der Kinder in Asien, in Lateinamerika und Afrika, die nur deshalb sterben müssen, weil Medikamente für sie nicht genug Profit versprechen?“

Monate lang hat Geschichtslehrerin Michele Wren mit ihrem Arbeitskreis UNO auf die Woche in Den Haag hingearbeitet. Die Schüler haben Thesen gesammelt, Formulierungsvorschläge diskutiert und Reden entworfen. Woody hat sich auf den Umweltausschuss vorbereitet. Nicht gerade sein Leib- und Magenthema, aber ein guter Einstieg für Anfänger. „Mein Hobby sind Abrüstungsfragen“, sagt der sanfte Junge mit dem mädchenhaften Gesicht und den braunen halblangen Haaren.

Die Schülerschaft der „International School of Brussels“ ist fast so bunt gemischt wie die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Woody stammt aus New York, hat aber die meisten seiner achtzehn Jahre in Asien verbracht. Maria, die mit ihrer blonden Mittelscheitelfrisur und dem indischen Oberteil wie ein typisches Highschool-Girl wirkt, ist in Schweden geboren, in Kairo aufgewachsen und hat dort lange die Internationale Schule besucht. In Ägypten hat sie die kulturellen Verwerfungslinien ganz anders erlebt als hier in Brüssel. In der fremden islamischen Umgebung entstehe ein Zusammengehörigkeitsgefühl Okzident gegen Orient – auch die europäischen Mitschüler hätten sich dort als Amerikaner gefühlt, und alle seien eng zusammengerückt.

Die Opfer sind schuld

Ihre große Schwester ist von Kairo aus auf ein konservatives College in den USA gegangen. Seit den Terroranschlägen wird sie dort angefeindet – nur weil sie lange unter Arabern gelebt hat. „Die jagen uns noch alle in die Luft“, wird ihr entgegengehalten. Marias Schwester hat inzwischen eine Studentenorganisation gegründet, die Verständnis für die arabische Kultur wecken will. Die Mitglieder gehen in die Highschools und informieren über den Islam. „Es tut mir in der Seele weh, wie viel Feindseligkeit Menschen in den USA derzeit aushalten müssen, denen man die arabische Abstammung ansieht“, sagt Maria. „Wenn ich an meine Freunde aus Kairo denke, die in den USA studieren wollen, wird mir ganz mulmig.“

Dass es umgekehrt für US-Bürger derzeit nicht immer angenehm ist, in Mitteleuropa zu leben, hat Krista erfahren. Ihre Glasglocke habe seit dem Umzug von Texas nach Brüssel ein Loch bekommen, sagt sie. Im Bus, auf der Straße sei sie als Amerikanerin leicht zu erkennen und spüre genau, wie die Leute hinter ihrem Rücken tuscheln. „Ich hätte mir nie so extreme Ansichten vorstellen können“, erinnert sie sich an den Besuch in der Europäischen Schule. „Ich habe nie vorher jemanden sagen hören, die Leute im World Trade Center hätten bekommen, was sie verdienten. Die Schüler hatten überhaupt keine Probleme damit, ganz deutlich auszusprechen, was sie denken.“

An den drei europäischen Schulen Brüssels wird die künftige Eurokraten-Elite ebenfalls in Rollenspielen auf die berufliche Zukunft vorbereitet. Der „Model European Council“ wandert jedes Jahr in eine andere europäische Stadt, dieses Jahr ist München an der Reihe. Die Tagesordnung unterscheidet sich kaum von der in Den Haag: Internationaler Strafgerichtshof, Naher Osten – und natürlich auch hier die Lage im Irak.

Aus dem Internetforum der Europäischen Schule Brüssel: „Eins ist sicher: Viele irakische Kinder werden die nächste amerikanische ‚Zeremonie‘ nicht lebend überstehen.“

Als sich Michele Wren, die seit 32 Jahren Schüler unterrichtet, am 11. September letzten Jahres mit Woody, Maria und anderen aus der Politik-AG auf den Weg zur Europaschule machte, war sie nicht auf Konfrontation eingestellt. „Die Lehrer dort waren genau so überfordert wie wir. Sie haben versucht, das ein bisschen zu lenken, aber die Aggression kam so unerwartet. Wenn es plötzlich heißt: Ihr verdient das, es ist eine Konsequenz eurer Politik, dann ist man erst mal sprachlos, richtig verblüfft.“

Bushs Politik ist schuld

Maria aus Schweden, mit dem 70er-Jahre-Outfit und dem Kaugummi-Akzent, ergänzt: „In den europäischen Gruppen hier an unserer Schule gibt es eine starke peer-pressure, Dinge aus Amerika schlecht zu machen. Aber damals an der Europaschule war bei uns plötzlich der Reflex da, alles Amerikanische zu verteidigen. Wir wurden angegriffen und hätten in dieser Situation niemals zugegeben, dass wir zum Beispiel gegen die Politik von Bush sind.“

Auch Betsy aus Washington erinnert sich genau an ihre Gefühle. Auf dem Oberstufenhof standen sie dicht zusammen, fühlten sich wie Barbie und Ken im Schaufenster mit ihren weißen Rüschenblusen, den dunklen Röckchen, den amerikanischen Papierfähnchen. „Ich glaube, die waren genauso schockiert über uns wie wir über sie. Wir hätten versuchen sollen, gemeinsam herauszufinden, was in dieser Lage die beste Politik sein muss. Aber das war Hardcore-Kritik an den USA. Nach ein paar Minuten haben wir uns zugeflüstert: Alarmstufe, das sind Amihasser hier.“

„Ich war geschockt über den Inhalt der Kritik“, erinnert sich Woody. „Wir sind schließlich nicht blöd. Wir wissen wohl, dass es auch anderswo auf der Welt Terrorattacken gibt. Da war ein deutscher Junge, der war echt hart. Er hat gesagt, Bushs Politik habe die Terroristen zu ihrer Tat getrieben.“

Aus dem Internetforum der Europäischen Schule Brüssel: „Wir sind Eltern mit hohem sozialem Empfinden, die sich der Solidarität, der Demokratie und der Gleichheit verpflichtet fühlen.“

Michele Wren ist noch immer empört, wenn sie an den 11. September 2002 zurückdenkt: „Einige unserer Schüler sind mit Familien befreundet, die von dem Terroranschlag persönlich betroffen waren. Wir hatten nicht erwartet, dass die Europaschüler unsere politischen Ansichten teilen. Wir dachten aber, dass sie unsere Gefühle respektieren. Zu jemandem nach Hause eingeladen zu werden und dann mit Vorwürfen förmlich erschlagen zu werden, das war sehr schwierig zu ertragen.“

Auf das Rollenspiel in Den Haag, sagt Michele Wren, hätten sich die Schüler lange vorbereiten können. Um sich für den Kulturkampf in der Europaschule zu rüsten, blieben nur ein paar Minuten. „In einer Ad-hoc-Konferenz haben unsere Schüler eine kleine Rede formuliert. Das waren klare, aber höfliche Worte, die ihren Standpunkt deutlich machten. Ich war richtig stolz auf sie.“

Es existiert noch ein Video von der Zeremonie in der Aula. Woody hatte nichts Präsentables zum Anziehen dabei, deshalb lieh ihm jemand sein Jackett. Dann stand er da oben, ganz blass im Schweinwerferlicht der Fernsehkameras, sagte, dass es wichtig gewesen sei, andere Meinungen zu hören, dass der Dialog fortgesetzt werden müsste. Das sieht Krista genau so: „Wir müssen wissen, was die Leute über uns denken. Nächstes Jahr sollten wir wieder hingehen und so was Ähnliches noch mal machen. Wir sollten versuchen, die Kluft zu überbrücken. Ganz ehrlich glaube ich gar nicht, dass wir so verschieden sind. Wir teilen eine Menge Standpunkte.“

Aus dem Internetforum der Europäischen Schule Brüssel: „Ich kann keinen Grund sehen, warum die EUROPÄISCHE SCHULE (es ist schließlich keine US-Schule) des 11. September gedenken sollte. Wird der Direktor auch Zeremonien organisieren, um derer zu gedenken, die aus Mangel an sauberem Trinkwasser sterben? Gedenken wir der Toten, die in anderen Terrorattacken ums Leben kamen? Der Nicaraguaner, die von US-Agenten gekillt wurden?“

Von der Internetdiskussion der Elternschaft, die am Ende in den Klassenzimmern zur Konfrontation führte, hatten Lehrer und Schüler der Internationalen Schule nicht gewusst. Betsy findet es problematisch, so ein Thema im Chatroom zu behandeln. „Die Leute sollten sich lieber persönlich treffen. Im Internet sieht man die Gesichter nicht, alles kann sich leicht hochschaukeln.“ Und Michele Wren meint: „Internet bringt die Giftigkeit zum Vorschein. Hier sagen wir: Wenn du Grundsätze hast, dann steh auch für sie ein.“