Statisten, ungezählt

Plötzliche Komplikationen können bei jeder Geburt auftreten – Ärzte und Hebammen müssen für diese Notfälle gerüstet sein, um gesundheitliche Schäden für das Kind zu vermeiden. Für den Umgang mit diesen Gefahrenlagen gibt es umfangreiche Regularien, doch deren Einhaltung ist vor allem im Klinikalltag häufig nicht gewährleistet

von SANDRA SACHS

Gut dreißig Minuten ist der Knirps im Wärmekasten alt. Er hatte Schwierigkeiten, den Temperaturunterschied von 34 Grad im Fruchtwasser auf 28 Grad im Kreißsaal zu verkraften, erklärt die Hebamme. Sonst strampelt er schon munter mit den babyspeckigen Ärmchen und Beinchen. Ein gesunder, rosiger Wonneproppen, wie ihn sich alle Eltern, Ärzte und Hebammen wünschen.

Das freudige Ereignis kann aber auch zum Albtraum für Mutter, Arzt und Hebamme werden. „Während der Geburt“, erläutert Horst Halle, Leiter der Geburtsabteilung an der Berliner Charité, „bleibt das Baby möglicherweise im Geburtskanal stecken“ – eine der häufiger auftretenden Komplikationen. Dann muss die Hebamme, falls sie bislang die Schwangere alleine begleitet hat, den in Bereitschaft stehenden Facharzt zu Hilfe rufen.

Hier liegt die erste Gefahrenquelle. Nach Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sollte der zuständige Arzt innerhalb von Minuten im Kreißsaal sein. Ein Zeitlimit, das nicht immer eingehalten wird. „Vor allem in Belegkrankenhäusern sind die zuständigen Geburtshelfer oft zum Zeitpunkt der Niederkunft in der eigenen Praxis und kommen zu spät“, erklärt Bärbel Pluta, leitende Hebamme der Geburtsabteilung im Berliner Krankenhaus Neukölln.

Trifft der zuständige Facharzt rechtzeitig ein, muss er innerhalb von zwanzig Minuten, der so genannten Entschlussentwicklungszeit (E-E-Zeit), den Gesundheitszustand von Mutter und Kind beurteilen und sich für oder gegen eine Notsectio, den Notkaiserschnitt, entscheiden. „In der Hektik kann es passieren, dass der Arzt eine falsche Diagnose stellt und versucht, das Kind ohne Kaiserschnitt auf die Welt zu bringen“, sagt Halle. Manchmal laufe auch bei der krankenhausinternen Organisation etwas schief – zum Beispiel, dass nicht schnell genug ein Anästhesist zum Vorbereiten und Durchführen der Narkose bereitsteht.

Ein plötzlicher, unvorhersehbarer Sauerstoffmangel des Kindes ist die häufigste Komplikation nach der Geburt, etwa wenn die Nabelschnur abgetrennt ist und das Baby Schwierigkeiten hat, alleine zu atmen. Zirka drei bis fünf Minuten kommt das Neugeborene ohne Atmung aus, dann aber kann der Sauerstoffmangel zu schweren Gehirnschäden führen.

Deshalb, so Horst Halle, sei es unbedingt nötig, nicht nur den allgemeinen Gesundheitszustand über die routinemäßige Apgaruntersuchung – bei der Herzschlag, Atmung, Muskelspannung, Reflexreaktionen und Hautfarbe beurteilt werden – festzustellen, sondern auch den Sauerstoffgehalt im Blut über dessen pH-Wert zu ermitteln. Eine Studie in der Kinderklinik der Universität Tübingen hat ergeben, dass dieser nur über eine Kombination aus Apgar-Untersuchung und Ermittlung des pH-Wertes zuverlässig ermittelt werden kann. „Auch hier schleichen sich zum Teil Messfehler ein. Zu viel oder zu wenig Sauerstoffzufuhr von außen kann schwere gesundheitliche Schäden zur Folge haben“, betont Halle.

In beiden Fällen ist dem zuständigen Arzt ein „Kunstfehler“ unterlaufen. Nach Professor Klaus Vetter, dem Leiter der Geburtshilfeabteilung am Krankenhaus Neukölln, kommen solche „Denk- und Handlungsfehler“ bei Geburten relativ selten vor. Meistens habe dann der zuständige Arzt eine Notfallsituation nicht richtig beurteilt, eine falsche Behandlung verordnet oder gar nicht reagiert. Seiner Meinung nach seien solche Fehler entweder auf krankenhausinterne Organisationsprobleme zurückzuführen oder auf Überlastung der Ärzte durch immer längere Arbeitszeiten und Personalmangel.

Da aufgrund von Sparmaßnahmen die Ärzte und Krankenhäuser hier keine Besserung erwarten, müssen sie sich auf andere Weise gegen den Verdacht, Fehler begangen zu haben, absichern. Eine Möglichkeit ist das Partogramm, ein standardisiertes Dokument, in das der Arzt oder die Hebamme alle bei und nach der Geburt vorgenommenen Untersuchungen samt Ergebnissen einträgt, inklusive aller Komplikationen und daraus resultierender Eingriffe. „Leider machen viele Geburtshelfer davon keinen Gebrauch oder füllen das Partogramm nur lückenhaft aus“, klagt Vetter.

Dies würde natürlich den Verdacht der Vertuschung eines Kunstfehlers stützen, im Falle einer Klage müsste nun der verantwortliche Arzt seine Unschuld beweisen. Ansonsten ist es an den Eltern des betroffenen Kindes, einen Kunstfehler nachzuweisen. Bei wem die Beweislast auch liegt: Einen bei einer Geburt möglicherweise begangenen Kunstfehler ein, zwei oder mehrere Jahre später nachzuweisen – die Verjährungsfrist liegt bei zehn Jahren – gestaltet sich mehr als schwierig.

Die „humanste und einfachste“ Möglichkeit zu einer Einigung ist ein klärendes Gespräch zwischen Arzt und klagenden Eltern und deren Rechtsbeistand, bei dem sie „ihr Beweismaterial“, zum Beispiel das Partogramm oder ein eigenes Gedächtnisprotokoll über den Geburtsverlauf, Zeugenaussagen und die Krankenakte, vorlegen und darauf hoffen, dass der Arzt auf dieser Grundlage seine Schuld bekennt und seine Haftpflichtversicherung den Schaden begleicht. Die Eltern können aber auch einen neutralen Fachkollegen um ein medizinisches Gutachten bitten, das sie allerdings aus eigener Tasche bezahlen müssen. Ein weiteres Problem: Haftpflichtversicherungen müssen dieses Privatgutachten nicht anerkennen.

Der nächste Weg führt zu den Schlichtungsstellen der Landesärztekammern. Bei diesen außergerichtlichen „Zwischeninstanzen“ erstellen neutrale Fachmediziner gemeinsam mit Juristen kostenlos Gutachten, die auch von den Haftpflichtversicherungen der Ärzte anerkannt werden. Allerdings kann der Arzt nicht zu einem Schlichtungsverfahren gezwungen werden und muss auch das Ergebnis nicht anerkennen. Dann bleibt den Eltern nur noch der gerichtliche Weg.

Wird der Arzt rechtskräftig von einem Zivilgericht verurteilt, muss er zahlen. Wenn nicht, muss der Kläger die gesamten Anwaltskosten tragen. Daneben können sich die Eltern bei der zuständigen Ärztekammer beschweren, die den Fall dokumentiert. Erhärtet sich der Verdacht auf Gefährdung der Patienten, dann meldet die Ärztekammer den Fall dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, das dem Arzt Berufsverbot erteilen kann.

Geht es nach den Versicherungsstatistiken, lässt sich Verdacht auf einen medizinischen Kunstfehler meist nicht bestätigen. Bei der Versicherungsgruppe DBV-Winterthur, die zur Zeit rund 110.000 Ärzte versichert, wurden im Jahr 2000 zirka 4.500 Schäden gemeldet. Die meisten Fälle wurden außergerichtlich verhandelt und die Anschuldigungen als ungerechtfertigt abgewiesen. „Zehn Prozent der Fälle wurden vor Gericht verhandelt, wovon es bei nur vier Prozent zur Verurteilung des Arztes kam“, sagt Patrick Weidinger, Leiter der Arzthaftpflichtabteilung. Seiner Meinung nach nehmen die Klagen wegen Kunstfehlern deshalb zu, weil viele geschädigte Patienten „mit ihrem Schicksal hadern und den Schuldigen zuerst unter den Ärzten suchen“.

Die erhobenen Zahlen der DBV-Winterthur beziehen sich allerdings auf den gesamten medizinischen Bereich – wie viele Klagen gegen Kunstfehler bei Geburten eingehen, wird nicht erfasst. So kann man den offensichtlich geringen Verurteilungsraten der Versicherungen nur die Schätzwerte der Interessenverbände geburtsgeschädigter Kinder entgegenhalten. Sie vermuten 15.000 bis dreißigtausend Kunstfehler bei Geburten pro Jahr. Ihrer Meinung nach sind die klagenden Eltern von vorneherein gegenüber den medizinischen Gutachtern im Nachteil, weil „eine Krähe der anderen kein Auge aushackt“, sprich kein als Arzt tätiger Gutachter einem Kollegen einen Fehler bescheinigt. Diesen gängigen Vorwurf lassen die Mediziner nicht auf sich sitzen. „Mittlerweile werden praktisch keine ,Gefälligkeitsgutachten‘ mehr ausgestellt“, so Halle, „denn wenn das rauskommt, ist der Gutachter auch seinen guten Ruf als Arzt los.“

Und so geht das Hickhack zwischen Patienten beziehungsweise Eltern behinderter Kinder und beschuldigten Ärzten weiter. Für die eigentlichen Opfer ändert eine materielle Entschädigung ohnehin nichts an ihrer Behinderung. Dass sie bei der ganzen Kunstfehlerdiskussion die Statistenrolle einnehmen, zeigt schon die Tatsache, dass sie und ihr Schicksal überhaupt nicht von offiziellen Stellen, wie dem Statistischen Bundesamt oder dem Bundesministerium für Gesundheit, erfasst werden. Vielleicht ist die Schuld letztlich überhaupt bei „höherer Stelle“ zu suchen. Wenn sich an den mangelhaften Rahmen-, sprich: Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern nichts ändert, dann produzieren diese weiterhin „menschliche Denk- und Handlungsfehler“ statt gesunde und zufriedene Patienten.

SANDRA SACHS, 25, schließt dieser Tage ihr Journalistikstudium in Bamberg ab