Geifernd witzig

Leidönschaftliche Lippen: Die Wanders im Jungen Theater

Da steht sie plötzlich auf der Bühne des Jungen Theaters, die olle, geifernde Dietrich, also eigentlich die Wanders, die wiederum eigentlich ein Mann ist und Ernie Reinhard heißt. Stolpert im cremefarbenen Hosenanzug, mit tuntigem Handtäschchen und Senioren-Spazierstock über grobes Gestein. Aus dem weltumjubelten blauen Engelchen ist eine verbitterte Greisin geworden, der anämische Versatzstücke eines längst verblichenen Lebens von den knallroten Lippen perlen: Strumpfbänder, Puderquasten, Blumen, Applaus. Verächtlich zitiert sie Fragmente ihrer Gassenhauer wie „Motten das Licht“ oder „von Kopf bis Fuß“ herbei und rattert die Namen ihrer Liebhaber herunter, um sich im nächsten Moment über den „ganzen Dreck nach dem Geschlechtsverkehr“ zu beklagen – und darüber, dass Männer von der Frau „nach der Erfüllung der ersten gleich die der zweiten Pflicht“ verlangten.

Travestie-Star Wanders, im Fernsehen der Ansager billiger Sex-Reportägchen, läuft im Theater zu größerer Form auf: Das sprachvirtuose Erstlingsstück des jungen Dramatikers Moritz Rinke aus dem Jahr 1995 ist ihr wie auf den Leib geschrieben. Tief traurig und mit hoher Komik zugleich spricht und spielt die Wanders den von Birgitta Linde inszenierten Monolog.

So ist es beklemmend witzig, wenn sie das Wort „Leidönschaft“ ganz nach der alten Schule deklamiert. Und schon allein die Szene, in der sie in einer Mischung aus Weltekel und altdivenhafter Erotik den Pelzmantel zurückschlägt und sich voller Grandezza in den Rollstuhl plumpsen lässt, lohnt den kurz weilenden Abend. Markus Jox