Die Mappe des Unbekannten

1945 nahm ein sowjetischer Offizier tausende Kunstwerke aus der Kunsthalle Bremen mit in Richtung Osten. Zum „Tag der Rückgabe“ zeigt die Kunsthalle Bremen nun 101 Werke, die sie vor acht Jahren von Russland offiziell zurückbekommen hat

„Mit dieser Ausstellung wollen wir einfach mal Danke sagen“, sagt der Kunsthallen-Direktor Wulf Herzogenrath. „Das gehört sich so“

von Jan Zier

Es geht in dieser Ausstellung nicht um die Kunst an sich. Jedenfalls nicht in erster Linie. Auch wenn manches von dem, was jetzt wieder in der Kunsthalle Bremen hängt, „von unschätzbarem Wert“ ist, wie der Direktor Wulf Herzogenrath nebenbei anmerkt. Viele große Namen sind dieser so genannten „Sammlung 101“ verbunden. Jener von Albrecht Dürer etwa, dazu Henri de Toulouse-Lautrec, Francisco de Goya, Edouard Manet, um nur ein paar von ihnen zu nennen. Dicht an dicht hängen ihre Bilder hier nebeneinander, in einen einzigen Raum zusammengedrängt.

Und doch geht es vor allem um das politische Symbol, das der Ausstellung „Bremen – Moskau – Bremen“ inne wohnt. Um den Zeitpunkt, zu dem sie stattfindet. Denn am 30. Oktober wird republikweit in 28 hochrangigen Museen der „Tag der Rückgabe“ begangen, dazu der 50. Jahrestag der Rückführung von Kulturgütern aus der ehemaligen Sowjetunion. Und die Kunsthalle Bremen ist das einzige Museum im ganzen Land, das in den letzten 50 Jahren überhaupt noch etwas auf ganz offiziellem Wege von Russland zurückbekommen hat. Eben diese „Sammlung 101“, die von Dienstag an wieder einmal in Bremen zu sehen ist.

Wem die Bremer das letztlich zu verdanken haben, wird wohl für immer unklar bleiben. Sicher ist nur, dass ein Unbekannter im März des Jahres 1993 eine alte braune Mappe in der deutschen Botschaft in Moskau abgegeben hat. „Akademie der Künste der UdSSR“ steht in kyrillischen Buchstaben darauf geschrieben. Die Kunsthalle hat sie aufbewahrt. Was darin lag, war einst ihr Besitz gewesen. Die Kunstwerke wurden 1943 nach Kyritz in die Mark Brandenburg ausgelagert und zwei Jahre später von einem sowjetischen Offizier mitgenommen. 45 Zeichnungen und 56 Druckgrafiken, die zunächst auf Schloss Karnzow lagerten, zusammen mit gut 3.000 weiteren Grafiken, gut 1.700 Zeichnungen, 50 Gemälden. Nach dem Krieg verliert sich die Spur dann, irgendwo in Russland.

Das kostbarste Werk ist sicherlich ein Landschafts-Aquarell von Albrecht Dürer von 1494, damals eines der ersten, die in freier Natur entstanden sind, weswegen es auch nur 15 mal 25 Zentimeter groß ist. Und eines der ersten, in der die Natur an sich Thema ist, also nicht nur als Hintergrund für christliche Szenarien dient. Dürer hat es als 24-Jähriger im Etschtal gemalt, auf dem Weg nach Italien. In Bremen hängt dieser Tage allerdings nur ein Faximilie der „Ansicht eines Felsenschlosses an einem Fluss“ – das Original ist ins Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte nach Münster ausgeliehen, in die Ausstellung „Orte der Sehnsucht. Mit Künstlern auf Reisen“. Auf dem freien Markt wäre es ein Millionenwert.

Die Bestände der zuletzt vor acht Jahren in dieser Form gezeigten Sammlung 101 folgen keiner innerer Ordnung, hier hat sich – wer auch immer – „wahllos bedient“, sagt Herzogenrath. Konvolute von Eugène Delacroix sind darunter, von Francisco de Goya, von Edouard Manet, dazu sehr seltene Farblithographien von Henri de Toulouse-Lautrec. Und eine Zusammenstellung von neun Zeichnungen, die zwar sehr nach Rembrandt aussehen, „aber genau deswegen“, wie Herzogenrath sagt, nicht vom Meister selbst stammen – sondern von seinen Schülern.

Am 30. April 2000 kehrten sie – in gutem Zustand – nach Bremen zurück. Und zwar vor allem deshalb, weil Bremen Russland im Austausch etwas anzubieten hatte: Ein florentinisches Mosaik sowie eine Kommode des legendären Bernsteinzimmers. „Dass unsere deutschen Freunde uns Teile des Bernsteinzimmers zurückgebracht haben, bedeutet uns viel“, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin seinerzeit gesagt. Und sich erkenntlich gezeigt. Deutschland geht davon aus, dass in Russland noch etwa 200.000 Kunstwerke lagern, dazu zwei Millionen Bücher und etwa drei Regalkilometer weiteres Archivgut. Seit dem – von Deutschland nicht anerkannten – so genannten „Beutekunst-Gesetz“ der Duma gelten sie als russisches Staatseigentum.

Auch die Kunsthalle vermisst noch immer 28 Gemälde, rund 1.500 Zeichnungen und mehr als 3.000 druckgrafische Blätter. Dazu gehört auch die „Baldin-Sammlung“, benannt nach dem Offizier und Architekturhistoriker Victor Baldin: Sie umfasst 364 Zeichnungen, Grafiken und Aquarelle, unter anderem von Rembrandt, Tizian, Rubens, Goya, van Gogh und Manet. Baldin hatte sie nach Kriegsende heimlich aus einem feuchten Schlosskeller nach Moskau geschmuggelt, um sie zu schützen. Bis zu seinem Tod im Jahre 1997 setzte er sich in zahllosen Briefen immer wieder für die Rückgabe ein – vergeblich. Die Verhandlungen sind, wie Herzogenrath sagt, „angesichts der Weltlage“ derzeit etwas „ins Stocken geraten“. Vor gut zwei Jahren hatte ein der Gazprom gehörendes Wochenmagazin über die baldige Rückgabe der Sammlung berichtet – ohne allerdings eine konkrete Quelle zu nennen. Tags darauf dementierte der russische Kulturminister jedoch.

Gleichwohl will er mit der jetzigen Ausstellung keine konkreten Forderungen erheben, „nicht auf die bösen Russen zeigen“, nicht sagen: „Das gehört aber uns!“ Statt von der bloßen Rückgabe spricht Herzogenrath lieber von dem Erhalt, der Pflege, der Bekanntmachung der Kunstwerke. Es würde ohnehin nichts nützen, auf ihrem Eigentum zu beharren, und auch in der Kunsthalle weiß man, dass es „nicht selbstverständlich“ ist, dass man die Kunst überhaupt jemals wieder zurückbekommt.

Selbst das böse Wort von der „Beutekunst“ nimmt Herzogenrath nicht in den Mund. Nein, sagt der Kunsthallen-Direktor in höflichem Tonfall, er wolle jetzt an dieser Stelle „einfach mal Danke“ sagen: „Das gehört sich so.“

Bis 30. November, Dienstag 10 bis 21 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 10 bis 17 Uhr