Die Wortspiele des Deichkönigs

Jürgen Dieko Müller ist Anwalt – und sonntags taz-Karikaturist. Ein Porträt des Preisträgers beim Wettbewerb Rückblende 2002

von ANNE HAEMING

Die Rangordnung scheint klar, noch bevor der Anwalt sein Büro im Berliner Stadtteil Zehlendorf betreten hat: Der alte Holzstuhl vor dem wuchtigen Schreibtisch ist ziemlich niedrig, die wartendenden Mandanten werden zu Jürgen Dieko Müller aufblicken müssen. In den knarzenden Ledersitz haben aufgeregte Klienten schon eine Kuhle gerutscht, die abgegriffenen Armlehnen hat ihr Angstschweiß seidig geglättet. Die nervös flatternden Blicke streifen die beeindruckenden Stapel aus grünen Akten, sehen den Mülleimer mit taz-Banderole. Die Situation entbehrt jeglicher Komik.

Dabei ist es amtlich: Müller hat ein preisgekröntes Händchen für Humoriges. Der Anwalt für Mietrecht und „Rächer der Enterbten“, wie er sich scherzhaft selbst bezeichnet, hat für seine taz-Karikatur übers Ehegattensplitting den ersten Preis bei der „Rückblende 2002“ gewonnen. „Ich habe erst mal einen ziemlichen Rüffel bekommen. Ich war zu spät“, grinst er breit. „Und dann musste ich mir auf der Bühne dauernd die Kaffeeflecken auf meinem Hemd zuhalten.“ Die Situationskomik des Abends erreicht für ihn den Höhepunkt, als er realisiert, dass er gewonnen hat. „Das hat man wohl vergessen mir vorher zu sagen. Erst als dann der dritte und zweite Platz vergeben waren, dämmerte es mir so langsam.“ Wahrscheinlich hatte er das Omen seines Kollegen Kriki zu stark verinnerlicht, der einmal zu ihm gesagt habe, sie beide seien allenfalls für dritte Preise gut. Dabei kommt es ja nicht darauf an, wie Haderer regelrechte Gemälde zu fabrizieren. Was zählt, sind Einfälle mit Punktlandung. „Solche Ideen, die springen einen ganz selten an“, meint Müller illusionslos, er winkt ab. Es sei ganz schön schwer, sich von den Musen küssen zu lassen. Immer wieder sonntags, seit fast 18 Jahren, kommt ein Anruf von der taz. Der Auftrag für Montag. „Ich muss mich zur Inspiration zwingen. Aber wenn man sich anstrengt und sich eine Stunde konzentriert, dann klappt das auch.“ Meistens. Nur zweimal in all den Jahren sei er gescheitert, habe bei Redaktionsschluss um vier Uhr nur Halbgares auf dem Papier gehabt. „Ein Scheißspiel, denke ich oft, warum setzt du dich diesem Druck überhaupt aus?“

Früher lautete sein Rezept: ab in die Badewanne, sinnieren gehen, „wie der arme Poet“. Seit einem Jahr denkt er trockenen Fußes: samstags vorarbeiten, mögliche Themen sondieren, Sonntagszeitung lesen. Dann setzt er sich vor seine weißen Blätter, schüttelt ein paar Striche locker aus dem Handgelenk und wartet, dass sich die losen Enden beim Zeichnen zu einer treffsicheren Ein-Bild-Geschichte verdichten. Die Zeichnung selber, die sei in fünf bis sechs Minuten fertig, er arbeite ja „sehr spärlich“, meint er, ein bisschen wie sein Liebling Sempé. Aber seine Sprechblasen seien ihm mindestens genauso wichtig wie die Figuren, das Gesamtkonzept braucht Zeit. „Ich arbeite sehr gerne mit Verfremdungen und Wortspielen, versuche, Bekanntes in einen anderen Kontext zu stellen.“ Das kann darin enden, dass das Papier, das er sonntags kurz vor knapp ins Fax legt, ein geschnippeltes, geklebtes Mosaik aus acht Teilen ist.

Den Transfer von Vertrautem in einen anderen Zusammenhang leistet Müller nicht nur innerhalb seiner sonntäglichen Karikatur-Klausur. Seine Finger kennen die halslosen, spitznasigen Figuren so in- und auswendig, dass sie wie von selbst loszulegen scheinen, sobald ein Stift Papier berührt. Wenn der Anwalt wieder Dienst als „Telefonprostituierte“ (Müller über Müller) schiebt, verzweifelte Mieter berät, dann sind schnell mal zehn Blätter voll mit Strichmännchen und Quadratmeterpreisen. Und er telefoniert sehr viel, oft drei Stunden am Tag. „Meine Ladys im Büro legen mir mittlerweile immer ganze Stapel mit Schmierpapier zurecht.“ Er grinst schon wieder.

Dabei waren Schmierpapier, gedankenlose Kritzeleien, Cartoons noch dazu, nicht immer sein Ding. Während der Juristerei hat er nebenher Kunstgeschichte studiert, abends Aktkurse besucht. Das mit den Comics sei eher zufällig passiert, auf gut Glück habe er mal eine Zeichnung an das Berliner Stadtmagazin Zitty geschickt, die dann gleich veröffentlicht wurde. Eins kam zum anderen, Aufträge für die taz, Gastspiele bei der Zeit und bei Titanic.

Einmal war Müller sogar kurz davor, seinen Anwaltsjob an den Nagel zu hängen und in die Werbung zu gehen. Dann ist der Chef der Agentur gestorben, Müller musste sich nicht mehr entscheiden. „Zwischen all den Werbefritzen hätte ich mich sowieso nicht wohl gefühlt“, meint er lakonisch. Und vor allem hätte er jetzt keine Urkunde. Die kann sich sehen lassen, Müller steht auf und holt sie aus dem Regal. So gediegen wie die mit blauem Leinen bespannte Mappe waren seine anderen Urkunden nie. Aber stolz ist er trotzdem auf alle die Ehrenurkunden. Davon hat er eine ganze Menge. Von den Bundesjugendspielen aus der Schulzeit im ostfriesischen Leer. „In Aurich ist es traurig, in Leer noch viel mehr“, rezitiert er.

Die Bindung zur Heimat geht über die Erinnerung an Sportmedaillen und trübselige ostfriesische Frauennamen wie Folke oder Hermine hinaus: Dieko, sein zweiter Vorname, verweist Jürgen und Müller auf Platzierungen im blässlichen Mittelfeld der Massen. „Diek heißt Deich auf Ostfriesisch“, erläutert Müller, „und Diek-o ist derjenige, der auf dem Deich sitzt.“

Und dann wäre da noch der schwere Mandantenstuhl: Er stand im Kontor der Mühle seines Großvaters.