ausgehen und rumstehen
: Die alten Fotos der jungen Christa Päffgen

Im Spiegel werfe ich noch einen kurzen, prüfenden Blick auf die Schulterpolster. Ich bin unsicher, normalerweise trage ich diese Jacke nicht. Als ich in der Galerie ankomme, behauptet meine Freundin, sie erkenne mich nicht wieder. Ich setze einen leicht enttäuschten Blick auf, aber erstaunlicherweise stört es mich nicht weiter. Wenig später bin ich sowieso betrunken. Viel nerviger ist, dass meine Schuhe immer aufgehen.

Später, am Potsdamer Platz, müssen wir noch eine Stunde auf unseren Film warten und gehen deswegen in das Bayerische Brauhaus nebenan. Es ist eine dieser überteuerten Touristentränken, in denen die Toiletten „Entlastungsstraße“ heißen und Getränke mit Slogans wie „Weißbier trifft Ingwer“ beworben werden.

Als wir auf der Terrasse Platz nehmen, brüllen direkt neben uns etwa 100 fleischige Kilogramm mit ausgebreiteten Armen mehrmals „Potsdamer Platz, ick lieb’ dir!“ über die Balustrade. Die Mutter des Fleisches legt sanft, aber bestimmt ihre Hand auf die wulstige Schulter ihres Sohnes. Unterhalb des Balkons rennt eine Schulklasse johlend in die falsche Richtung die Rolltreppe hinauf. Ich genieße es. An Orten wie diesen finde ich immer eine seltsame innere Ruhe. Man ist so weit von der Welt entfernt, dass man sich nicht mehr um sie kümmern muss und sie genau deswegen eigentlich schon wieder ganz okay finden kann. Zufrieden zünde ich mir eine Zigarette an und frage den Kellner nach einem Aschenbecher.

Am nächsten Nachmittag blicke ich vom zweiten Stockwerk des Alexa konsterniert auf etwa 5.000 shoppingwütige Berliner Leiber, die sich zwischen Billigklamottenläden, Elektronikkette und Tchibo-Filiale den knappen Platz zum Atmen nehmen. Die Gier hat sich selbstständig gemacht und schwebt wie eine dunstige Blase über ihren Köpfen. Eigentlich die perfekte Umgebung, seiner katergeschwängerten Misanthropie freien Lauf zu lassen. Aber es gelingt mir beim besten Willen nicht, der eher zufälligen Anwesenheit an diesem unwirklichen Ort ein positives Ich-Gefühl abzuringen, egal wie billig und hassdurchdrungen es auch sein mag. Mein Schuh ist auch schon wieder auf. Da ist sie also, die Geschichte als Farce. Verdammt, ich hätte es wissen müssen! Sich einzubilden, man könne die Unmöglichkeit des wahren Lebens im Falschen binnen 24 Stunden zweimal widerlegen, ist ganz schön überheblich.

Plötzlich bin ich mir auch nicht mehr sicher, ob es gestern überhaupt funktioniert hat. Kapitulation. Beim Anblick der drängelnden Massen werde ich jetzt nur noch traurig, sehr traurig. Mit all der mir in solch einer Situation verfügbaren Gewissenhaftigkeit binde ich meine Schuhe extra fest, fahre nach Hause und lege mich ins Bett.

Als ich dann abends mit einem Bier in der Hand aus der Bahn steige, wartet sie schon und lächelt mich mitleidig an: „Dass Du das mit dem Wegbier immer noch machst.“ Wieder fühle ich mich nicht angegriffen, sie hat es ja sehr charmant gesagt. Dann darf man das. Aber als wir feststellen, dass das Konzert im Berghain ausverkauft ist, bin ich schon wieder ziemlich genervt. Wenn man jetzt auch schon hier Karten im Vorverkauf besorgen muss, dann ist Berlin inzwischen echt wie jede andere Stadt dieser blöden Republik. Kein Stück besser mehr. Ich rauche einen Zigarette nach der anderen und muss mich auch schon wieder bücken, um meine beschissenen Schuhe zu binden. Dann fahren wir nach Mitte zurück und landen bei Kaufhof am Alex. Samstag hat der ja glücklicherweise bis 22 Uhr auf. Wir holen uns von der offenen Süßwarentheke eine Menge Lakritz, Schokofrüchte und glasierte Nüsse und nehmen die Rolltreppe in die Herrenmodenabteilung im zweiten Stock. Es ist fast niemand mehr hier. Mit schokoverschmierten Händen versuche ich das Hemd der Marke Olymp zuzuknöpfen, ohne es mehr als nötig dreckig zu machen. Es sitzt nicht richtig, aber wir lachen uns an und stecken uns die restlichen Süßigkeiten in den Mund. Ich fühle mich gut, wie ein Mann im Olymp eben.

Als die müde Verkäuferin dann doch gefährlich vorwurfsvoll zu uns rüberstarrt, schlüpfe ich schnell wieder in mein T-Shirt und wir verlassen die Galeria Kaufhof in Richtung Galerie Nagel. Zwischen Fotos der jungen Christa Päffgen, die unerklärlicherweise irgendwie an Kate Moss erinnert, und den Briefen an ihren todhässlichen Lover trinken wir mehr Bier und bieten den anderen die letzten Lakritzstücke an. Als ich sie Sonntagnachmittag wieder besuche, wäscht sie gerade in Trainingsklamotten ihre Bettwäsche. Ich habe zwei viel zu große Stück Kuchen mitgebracht und die Platten, die ich gerade auf dem Flohmarkt gekauft habe. Sie setzt Kaffee auf. Dann tanzen wir in ihrem Zimmer zu Fleetwood Macs „Everywhere“. DOMINIKUS MÜLLER