Flucht aus der Defensive

„Die Nahles-Vorschläge hören sich gut an, sind aber nicht umsetzbar“, sagt Sachsen-Anhalts SPD-Landeschef Püchel, der hinter dem Schröder-Kurs steht

von unseren Korrespondenten

Zwar hätten die Wähler am letzten Sonntag der Bundesregierung einen Denkzettel verpasst, weil sie „keinen klaren Weg aus der aktuellen Unsicherheit“ aufgezeigt habe, sagt der nordrhein-westfälische SPD-Chef Harald Schartau. Aber deswegen zurück zu Lafontaine? Nein, damit kann man den Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr nicht kommen. Das Kapitel ist für sie abgeschlossen, personell wie ideologisch.

Und so stößt das Strategiepapier „Zeit für einen Neuanfang“ ihrer linken Genossen (u. a. Andrea Nahles, s. Interview) bei den NRW-Sozis auch auf wenig Resonanz. Altes Denken, heißt es. Schließlich stammt ja auch Wolfgang Clement aus ihren Reihen.

So stärkt Landeschef Schartau seinem Exministerpräsidenten demonstrativ den Rücken. Clement versuche „in einer außerordentlich rigorosen Art und Weise, die der Größe des Problems allerdings auch angemessen ist, die Leute wach zu rütteln und für Veränderungen einzustimmen, die es möglich machen, eben schneller zu neuen Arbeitsplätzen zu kommen und neue Perspektiven für Beschäftigung hinzukriegen“, verkündet Schartau.

Auch Schutzgesetze für Arbeitnehmer gehören dabei für den Exgewerkschaftsfunktionär auf den Prüfstand. Und er fordert die Gewerkschaften auf, „bei den anstehenden Reformen nicht in der Defensive zu bleiben“, sprich: Er erwarte von ihnen mehr „Risikobereitschaft“. Trotzdem: Als „Modernisierer“ würden sich die NRW-Sozis genauso ungern bezeichnen lassen wie als „Traditionalisten“, verstehen sie sich doch von jeher als Zentrum der Partei.

PASCAL BEUCKER

In Sachsen hält die SPD nicht viel von den Vorschlägen der linken Genossen. Man sei froh, dass Oskar Lafontaine und seine nachfrageorientierte Strategie von der Bühne abgetreten sind, und zugleich sehr besorgt über deren mögliche Wiederkehr, meint die sächsische SPD-Landesvorsitzenden Constanze Krehl. Allerdings vermisse sie in der Politik von Wirtschaftsminister Clement ostdeutsche Akzente.

„Die Nahles-Vorschläge hören sich gut an, sind aber nicht umsetzbar“, meint Sachsen-Anhalts SPD-Landeschef Manfred Püchel. Der Exinnenminister steht hinter dem Schröder-Clement-Kurs und glaubt, dass sich dieser auch durchsetzen werde. Trotz der heftigen Diskussionen befürchtet er keine Spaltung der SPD.

Nach den Wahlniederlagen in Hessen und Niedersachen hatte auch der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Plat-zeck Kanzler Schröder Treue geschworen. Reformen seien unumgänglich. „Wir werden Ansprüche zurückschrauben müssen, um die Sozialsysteme lebensfähig zu erhalten.“

Dagegen warfen einige SPD-Politiker aus Mecklenburg-Vorpommern der Parteiführung den „Verlust sozialdemokratischer Werte“ vor. Sie sei programmatisch orientierungslos und vernachlässige die Basis bei Entscheidungen, heißt es in einem Positionspapier. Die Unterzeichner sehen in den Wahlniederlagen sehr wohl die Folge einer „fehlerhaften Politik“, die sich gegen Arbeitnehmer und den Sozialstaat richte. MICHAEL BARTSCH

In Hessen wollen Landesvorstand und Fraktion heute erste Ergebnisse ihrer Überlegungen zur personellen Erneuerung und programmatischen (Neu-)Ausrichtung der Partei vorstellen. Nach allem, was bislang an Stellungnahmen vorliegt, dürften sich in Hessen die gemäßigten Traditionalisten gegen die wenigen Modernisierer durchsetzen.

In einem Positionspapier des Bezirksvorstands Hessen-Nord heißt es unmissverständlich, die SPD müsse wieder ihre Funktion als „Anwalt der sozialen Gerechtigkeit“ wahrnehmen, „als verlässlicher Partner, der die soziale Absicherung der Menschen garantiert und zur Richtschnur künftiger inhaltlicher Arbeit erhebt“. Back to the roots also. Die südhessischen Sozialdemokraten fordern gleich einen außerordentlichen Bundesparteitag zur Konzipierung der zukünftigen Grundausrichtung der Partei. Ihr Bezirksvorsitzender Gernot Grumbach verlangte schon mal vorab, dass es in Berlin ab sofort „mit der Unterordnung der aktiven Wirtschaftspolitik unter die Finanzpolitik ein Ende haben muss“. Die Förderung von Wachstum und Beschäftigung dürfe nicht durch die Haushaltskonsolidierung „stranguliert“ werden. Dazu gehöre auch eine Arbeitsmarktpolitik, die sich nicht in ständigen Deregulierungsvorschlägen zu Lasten der Beschäftigten erschöpft.

Im Saarland haben viele Genossen weder mit der Programmatik von Oskar Lafontaine noch mit seiner Person ein Problem. Altgedienten Genossen liefen Tränen der Rührung über die Wangen, als Lafontaine auf einem Neujahrsempfang der SPD Saarbrücken ihr Weltbild wieder zurechtrückte – mit einer Philippika gegen die Globalisierung im Allgemeinen und die Regierung im Speziellen. Nur wenige entsetzten sich und flüsterten: „Siehe da, das Grauen kehrt zurück.“

KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Im Süden hält man sich zu den Vorschlägen bedeckt. Ob das Thema denn so heikel sei, dass man lieber gar nichts dazu sagt, wollte in Stuttgart gestern niemand kommentieren. Der bayerische Landesvorstand hält die Vielstimmigkeit innerhalb der Bundespartei ohnehin eher für schädlich und lehnt eine Stellungnahme ab, bevor das Papier der SPD-Linken überhaupt veröffentlicht ist. JÖRG SCHALLENBERG