Kein Schattenschach

Heute beginnt in Bonn die Schach-WM zwischen Titelträger Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik

BONN taz ■ Schatten scheinen ausgeschlossen. Selbst die rund 45 Millimeter kleinen hölzernen Bauern dürfen keine werfen – so als sei dies ein Attentat auf die Konzentration von Weltmeister Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik. Am Wochenende wurde die Beleuchtung in der Bonner Bundeskunsthalle entsprechend justiert, damit die Augen der beiden Schachspieler aus Indien und Russland nicht durch Reflektionen abgelenkt werden.

Dass sich ansonsten Schatten über die heute beginnende, mit 1,5 Millionen Euro dotierte WM legen, ist unwahrscheinlich. Die Zeiten des Psychokriegs, als Bobby Fischer Partien kampflos verschenkte, Viktor Kortschnoi im Joghurt von Anatoli Karpow geheime Botschaften seiner Sekundanten witterte oder den Einsatz eines Parapsychologen des KGB fürchtete, sind vorbei. Skandalöse Vorwürfe wie beim letzten WM-Match zwischen Kramnik und Wesselin Topalow wird es kaum geben. Der Bulgare hatte bei der Vereinigung der beiden WM-Titel 2006 Kramnik Beschiss auf dem Klo mit einem Computer vorgeworfen.

Bester Laune reckten sich am Wochenende Anand und Kramnik nach der Sitzprobe am Schachtisch die Hände entgegen und grinsten in die Linsen der Fotografen. Fern der zwölf Partien werden sich der Weltmeister und sein 33-jähriger Vorgänger jedoch aus dem Weg gehen. Sie wohnen zwar mit ihren Sekundantenteams im selben Hotel, aber in entgegengesetzten Flügeln. Am Sonntag waren beide froh, dass der Titelkampf nach monatelanger Vorbereitung endlich beginnt. Bei einem 6:6 verteidigt der Weltmeister nicht mehr automatisch den Titel, sondern muss in einen Tiebreak über vier Schnellschachpartien. Der oft zu gutmütige Anand ließ sich das Zugeständnis abringen. Allerdings gilt der „Schneller Brüter“ genannte Inder als Spezialist in der hurtigen Variante des königlichen Spiels.

Bis dahin aber wird klassisch gespielt, und der 38-Jährige schiebt seinem Gegner Kramnik die Favoritenrolle zu. „Er ist ein erfahrener Zweikämpfer“, lobt der Baden-Badener Bundesligaspieler den Herausforderer. Der 2000 von Kramnik entthronte Exchampion Garri Kasparow pflichtet bei: „Kramnik ist leichter Favorit, weil er in Zweikämpfen etwas stabiler ist. Ich weiß auch nicht, ob sich Anand von der desaströsen Leistung in Bilbao rasch erholt. Der Inder scheint empfindsamer. Kramnik juckt derlei wenig. Aber es gibt keinen klaren Favoriten.“

Anand widerspricht in nur einem Punkt: Seinem letzten Platz beim Grand-Slam-Finale in Bilbao vor Monatsfrist misst der in der Nähe von Madrid lebende Weltmeister keine Bedeutung bei. „Ich musste meine neuen Eröffnungsideen für Wladimir aufsparen. In so einem Turnier wie Bilbao ist halbes Gas zu wenig, man muss Vollgas geben. Man kann nicht viel leisten, wenn man schon den nächsten, wichtigeren Wettbewerb im Hinterkopf hat und sich darauf konzentriert“, entschuldigt Anand sein schlechtes Abschneiden.

Durch die Schlappe rutschte er in der Weltrangliste von Platz eins auf fünf ab. Kramnik ist gar nur Sechster, weil der Pariser bei seinem zuvor achtmal gewonnenen Lieblingsturnier in Dortmund ebenfalls die rote Laterne trug. Beide wollten ihrem Kontrahenten in den letzten Monaten keine Tipps über geplante Eröffnungssysteme mehr geben.

Die Taktik bei der ersten Schach-WM in Deutschland seit 74 Jahren dürfte auf beiden Seiten identisch sein. Von 51 Turnierpartien seit 1989 endeten 41 unentschieden. Sechsmal behielt Kramnik die Oberhand, viermal Anand – aber jeweils nur mit den weißen Steinen. „Irgendwann muss diese Serie reißen, auch wenn das in der absoluten Weltspitze sehr schwierig ist“, hofft Kramnik. Allerdings dürfte der Weltmeister von 2000 bis 2007 ebenso wie der Titelverteidiger zunächst bestrebt sein, wie gewohnt mit Schwarz ein Remis zu erreichen. Für die 500 Zuschauer in der an allen Tagen schon nahezu ausverkauften Halle könnte so manches Duell zu einem kurzen Vergnügen von zwei statt sechs bis sieben Stunden werden. Peer Steinbrück wird die Zeit dennoch genießen – der starke Hobbyspieler fungiert als Schirmherr und erhielt gestern für seine Verdienste den Ehrenpreis des Schachbundes NRW. Der Finanzminister kann in der Bundeskunsthalle die langen Schatten der weltweiten Finanzkrise wenigstens kurz hinter sich lassen. HARTMUT METZ