Der Boxer, der nicht aus der Ecke kommt

Es ist nicht das erste Mal, dass der Halbschwergewichtler Thomas Ulrich einen Kampf absagt. Stattdessen fanatisierte am Samstag der türkische Brieftaubenzüchter Sinan Samil Sam die Box-Fans in Neukölln

Sven Ottke könnte sich geirrt haben, als er über Thomas Ulrich sagte, der habe zwar mächtig Krawumm in seinen Schlägen, doch fehle ihm die Angst. Angst ist gut für Boxer. Sie macht vorsichtig. Bremst vor übermütigen Aktionen, schützt den Boxer. Aber soweit sollte es am Samstagabend im Hotel Estrel gar nicht erst kommen, dass Ulrich Angst hätte zeigen können. Er stieg nicht in den Ring. Ulrich sagte den EM-Kampf gegen den Italiener Branco ab und begab sich am Nachmittag nicht an den Punchingball, um die Muskulatur zu lockern, sondern zum Mediziner Thorsten Dolla. Dort ließ er sich die Diagnose „gastrointestinaler Infekt“ stellen: Magen-Darm-Grippe. Er habe viel Flüssigkeit verloren, „ordentlich gekotzt und geschissen“, wie eine Universum-Mitarbeiterin direkt übersetzte. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass sich Ulrichs Substanzverlust nicht nur auf den Verdauungstrakt beschränkte, sondern auch dessen Psyche betraf.

Es passiert nicht zum ersten Mal, dass den Spandauer, bekannt für seine Labilität, der Mut verlässt. Ebenfalls wegen einer Grippeerkrankung fiel ein Kampf in Riesa gegen den US-Amerikaner Ray Domenge aus. Damals sagte Ulrich aber etwas früher Bescheid, so dass erst gar kein Fernsehvertrag zustande kam. Diesmal sollte Ulrich im Rahmen des ZDF-Boxabends als Hauptkämpfer präsentiert werden, und zwar als einer, der furchtlos den Knock-out sucht. Das ZDF stellte nun kurzfristig um. Notgedrungen. Zum Topact wurde sodann ein türkischer Brieftaubenzüchter aus Hamburg, Sinan Samil Sam oder auch der Bulle vom Bosperus geheißen, der über speckgepolsterte Hüften verfügt, die türkischen Anhänger im Estrel fanatisierte, auch weil er seinen Schwergewichtskamf gegen den Briten Danny Williams in recht sehenswerter Weise gewann. Der Bulle darf sich jetzt Europameister nennen. Ein ZDF-Mann mutmaßte danach: „Ich möchte stark bezweifeln, ob uns Ulrich so einen Kampf geliefert hätte.“ Die Fensehmacher waren trotzdem sauer über die Absage. Kann man verstehen, übertrugen sie diesmal nicht zweitklassiges Boxen, sondern drittklassiges.

Berlin ist für Ulrich ein gefürchtetes Pflaster, fraglich, ob er es so schnell wieder betreten wird. Hier schlug er im Februar 2001 Gabriel Hernandez in einem seiner besten Kämpfe durch Niederschlag in Runde acht, Monate später wurde er an gleicher Stelle mit gellenden Pfiffen aus der Halle verabschiedet, nachdem er gegen Glencoffe Johnson keine Chance hatte und k. o. ging. Von diesem Karriereknick schien sich Ulrich erholt zu haben, als er zuletzt in Schwerin den EM-Titel gegen den Italiener Yawe Dawis eroberte. Ein Kampf gegen Graciano Rocchigiani stand in Aussicht. Dabei wird es wohl bleiben, doch ob Ulrich sein, wie es hieß, „äußerst sensibles Gemüt“ den Anforderungen des Profiboxens in der richtigen Dosis auszusetzen vermag, darf bezweifelt werden.

Ulrichs Berater Werner Lichtenberg weiß, dass sein Schützling viel Verständnis und Geduld braucht, Torsten Schmitz, sein früherer Trainer, vermochte diese Eigenschaften im Umgang mit dem Olympiadritten von Atlanta nicht mehr aufzubringen und trennte sich von ihm. Ulrich wird derzeit von Fritz Sdunek trainiert, der manchmal in Berlin vorbeischaut und ansonsten die Trainingspläne von Hamburg in die Hauptstadt durchgibt. Ulrichs Vorbereitung lief auf Gran Canaria. Dort soll es sogar zur Überwindung von Ulrichs Scheu zu öffentlichen Sparringskämpfen gekommen sein. „Damit er seine Barriere vor Publikum überwindet“, ließ Universum wissen. Vielleicht hat sich Ulrich einfach in das falsche Wartezimmer begeben. Einträge unter P wie Psychotherapeut im Branchenverzeichnis könnten weiterhelfen. MARKUS VÖLKER