Fräulein Raschs Gespür für Neurosen

Eine Art Fortsetzung von Ibsens „Nora“: Franz Xaver Kroetz’ „Wunschkonzert“ in der Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Schaubühne

Harte Zeiten auf dem Planeten: Sex ist im Leben dieses Fräuleins nicht vorgesehen

Wer so wohnt, dem ist nicht mehr zu helfen. Da braucht das Fräulein Rasch, mit deren Wohnung wir es hier in der Schaubühne zu tun haben, gar nicht erst heimzukommen, um sich dann erst nach einer guten Stunde das Leben zu nehmen. Denn mit einem so hässlichen Sofa, so viel ist schon vom ersten Augenblick dieses Theaterabends klar, so scheußlichen Gardinen, so entsetzlich geblümten Gläsern, schaurig gemusterten Tischdeckchen und sinnlos praktischen Klapptabletts lässt sich ein lebenswertes Leben nicht gestalten.

„Wunschkonzert“ heißt das wortlose Stück von Franz Xaver Kroetz, dessen Protagonistin wir hier bei den letzten 75 Minuten ihres Lebens zusehen dürfen. Es stammt aus einer Zeit, als Heiner Müller Neubaubehausungen von Werktätigen wie dieser hier den Namen „Fickzellen“ gab: nämlich aus den ideologisch ebenso übersichtlichen wie öden Siebzigerjahren. Und so sieht das Stück in Thomas Ostermeiers Inszenierung an der Schaubühne auch im Jahr 2003 noch aus.

Für den hier aktuell vorliegenden Sozialfall allerdings ist selbst das schöne Müller-Wort nicht wirklich treffend. Denn Sex ist im Leben dieses Fräuleins nicht mehr vorgesehen. Allerhöchstens ein babyblaues Sofakissen mit Boy-Group-Porträt lässt noch auf entsprechende Sehnsüchte schließen. Und auf die Tatsache, dass wir zeitlich inzwischen dreißig Jahre weiter sind. Halten wir es also mit dem bewährten Begriff „Wohnklo“. Auch deshalb, weil ein Drittel von Jan Pappelbaums Bühne tatsächlich von einem Klo dominiert wird, auf dem es dann im Laufe des Abends zu einem denkwürdigen Auftritt kommt.

Dabei hat das Fräulein Rasch noch Glück, dass sie wenigstens von Anne Tismer verkörpert wird, die all die kleinen Macken dieses ständig fröstelnden, verhärmten Mauerblümchens mit akribischer Virtuosität als großes Unglück vor uns ausbreitet: einen manischen Putzdrang, extreme Kurzsichtigkeit oder den Zwang, beständig Herdplatten, Wasserhahn und Wohnungstür auf ordnungsgemäße Verriegelung zu überprüfen. Fachleute würden hier vermutlich von einer ausgewachsenen Zwangsneurose sprechen, wozu auch der bereits erwähnte Toilettenauftritt passt. Dort nämlich sitzt das Fräulein irgendwann. Im Radio läuft gerade die Sendung „Wunschkonzert“ und ein Moderator hat soeben mit ölig samtener Stimme Herbert Grönemeyers „Der Weg“ angesagt.

Währenddessen kämpft das Fräulein also zunächst mit der Verdauung und nach vollbrachter Tat schließlich mit den Tränen. Dies alles ist natürlich wahnsinnig komisch, nicht nur wegen des armen Fräuleins auf dem Klo, sondern auch wegen Herbert Grönemeyer, der besagtes Lied seiner an Krebs gestorbenen Frau gewidmet hat.

Während man darüber nachzudenken beginnt, was Thomas Ostermeier, der den Abend inszenierte, mit Stefan Raab gemeinsam haben und was ihn wiederum von Herbert Grönemeyer trennen könnte, erinnert man sich auch daran, dass dieser Abend als Fortsetzung von Ibsens „Nora“ verstanden werden will. Jener Nora, die Ostermeier im November so überzeugend ins Dieter-Bohlen-Zeitalter verlegt und in der Anne Tismer sich als Naddel-Nora den Weg aus dem teuren Designerheim so fulminant freigeschossen hat. Dieser Abend nun sollte auch als Variation über die Zeit danach gedacht sein: Nora kommt aus dem Gefängnis, wo sie wegen des Mordes an Ehemann Helmer eine Haftstrafe verbüßte. Die Kinder hat man ihr weggenommen. Sie ist allein, und jetzt könnte alles auch ganz anders kommen.

Doch Thomas Ostermeier (und vielleicht auch der Helmer in ihm) spricht noch einmal das Urteil über sie: Nora darf nur als Fräulein Rasch weiterleben, und muss schließlich als Fräulein Rasch zugrunde gehen.

ESTHER SLEVOGT

Franz Xaver Kroetz: „Wunschkonzert“. Regie: Thomas Ostermeier, Schaubühne, Lehniner Platz, nächste Vorstellungen: am 13. 2. u. 28. 2. sowie am 4. 3. u. 5. 3., jeweils 19.30 Uhr