Wirf immer ein Seil zurück

Die 150 langen Jahre vor Colin Powell und Condoleezza Rice: Die groß angelegte Fotodokumentation „Freedom“ zeichnet die komplexe Geschichte der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung nach

Vierzig Jahre später hetzt und lachtder weiße Mobimmer noch

von JULIA GROSSE

In einem Amerika, dessen Eliten sich bis zum heutigen Tage gerade einmal einen Martin-Luther-King-Gedenktag abringen konnten, ansonsten aber ihr afroamerikanisches Erbe beschweigen, besteht Bedarf an Aufklärung. Das dachten sich wohl auch die Autoren des Bildbandes „Freedom“, der Gründungsdirektor des Forschungsinstituts für Afroamerikanische Studien an der Columbia University in New York City, Manning Marable, und die Presidental-Professorin für Anthropologie am Graduate Center der New Yorker City University, Leith Mullings. Und so steht im Zentrum des umfangreichen Buches eine andere Geschichte als die offizielle (weiße) amerikanische, nämlich die eigene Geschichte der Afroamerikaner.

Der Band „Freedom“ dokumentiert in chronologisch unterteilten Kapiteln, denen fundierte einleitende Texte sowie Erklärungen zu jedem einzelnen der über 600 Fotografien beigeordnet sind, die Geschichte des afroamerikanischen Kampfes um Gleichberechtigung, aber auch das Herausbilden einer eigenen Kultur und eigener Lebensentwürfe. Dieser Kampf, der auch eine einmalige historische Leistung einer Gruppe darstellt, die sich als Volk überhaupt erst einmal definieren musste, kulminierte schließlich in der Bürgerrechtsbewegung. Generell wird diese auf die Zeit von der Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen im Mai 1954 bis zur Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968 begrenzt.

Doch, und das ist das Interessante an diesem Buch, spannt „Freedom“ den Bogen erheblich weiter und verweist auf den Beginn afroamerikanischen Widerstands bereits in der Sklaverei sowie auf die Aktivitäten in der Gegenwart: Auf einem frühen Bild aus dem Jahre 1850 ist beispielsweise der politische Aktivist der damaligen Anti-Sklaverei-Bewegung, Frederick A. Douglass, zu sehen, wie er einen Protest gegen den so genannten Fugitive Slave Act anführt.

Dieses Gesetz erlaubte es Federal Marshals, flüchtige Sklaven zu verhaften und wieder zu ihren Besitzern zu verschleppen. Und schließlich zeigt ein Foto im letzten Kapitel des Buches den Schauspieler und Aktivisten Danny Glover als Vertreter des schwarzen Amerikas während der Anti-Rassismus-Konferenz im südafrikanischen Durban, 2001. Dazwischen liegen mehr als 150 Jahre.

Über den Kampf der Abolitionisten während des Bürgerkrieges, 1861 bis 1865, dokumentiert das Buch den Beginn der Rassentrennung und der Ausbildung des weißen Rassismus. Die Fotografien zu damals gängigen Lynchpraktiken, Ende des 19. bis in die ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts, sind in ihrer Grausamkeit kaum zu ertragen. Der wohl erschütterndste Beweis menschlicher Niedertracht ist die Fotografie einer weißen Menschenmasse, 1919 in Omaha, Nebraska, die lachend vor dem brennenden Körper eines schwarzen Mannes steht.

Vierzig Jahre später lacht und hetzt der weiße Mob immer noch. Diesmal schreien gut gekleidete Teenagerinnen mit hassverzerrten Gesichtern einer schwarzen Schülerin nach, weil sie den gleichen Unterricht besuchen will. Elizabeth Eckford war eine der neun afroamerikanischen Studenten, die Bill Clinton wiederum vierzig Jahre später als die „Little Rock Nine“ für ihren Mut honorierte. Zu ihrer Zeit mussten die neun Studenten von der Nationalgarde in die Little Rock Central High School in Arkansas begleitet werden. Dabei lag das Verbot der Rassentrennung an den Schulen durch den Supreme Court bereits fünf Jahre zurück.

Die größte Aufmerksamkeit schenkt „Freedom“ dem Zeitraum des offiziellen Civil Rights Movements und der Entwicklung der Black-Power-Bewegung. Die berühmten Fotografien und Geschichten aus der Zeit von 1954 bis 1975 sind einem mittlerweile größtenteils vertraut, sie dokumentieren bewegende und tragische Momente afroamerikanischer Freiheitskämpfer, Malcom X, Martin Luther King, Angela Davis, Muhammad Ali. Aber auch hier gelingt es den Autoren, inhaltlich wie fotografisch genügend Informationsmaterial zu liefern, um dieses Kapitel afroamerikanischer Historie vor einer bloßen Reduzierung auf den schillernden Begriff der Black Power zu bewahren. Zwar erscheint in „Freedom“ auch die legendäre Fotografie der beiden schwarzen US-Sprinter, die 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexiko während ihrer Siegerehrung die Fäuste zum Black-Panther-Gruß ballen. Doch zeigt das Buch ebenso eine Vielzahl Bilder aus dieser Zeit, die dem Leser noch völlig unbekannt sein dürften.

Der über 500 Seiten starke Band endet schließlich in der Gegenwart, unter anderem mit einem Foto der mächtigsten Vertreter Amerikas während einer Kabinettssitzung im Weißen Haus, einen Tag nach den Anschlägen auf das World Trade Center. In der Mitte sitzt Außenminister Colin Powell, der heute politisch gesehen einflussreichste Afroamerikaner in der Geschichte der USA, vor Condoleezza Rice, Sicherheitsberaterin des Präsidenten. Dieses Bild könnte scheinbar das erfolgreiche Ende des schwarzen Freiheitskampfes beweisen. Wie kann man an so einem Punkt schließlich noch von Rassenkonflikten und Benachteiligung Schwarzer in den USA sprechen?

Doch hütet sich das Buch davor, jene Vorzeigekarrieren innerhalb des weißen Systems als neue Form der Black Power zu bewerten. Vielmehr könnte am Ende von „Freedom“ auch eine Frage stehen: Was ist die Aufgabe einflussreicher Schwarzer innerhalb des US-Systems heute? Der afroamerikanische Regisseur David Johnson formulierte es so: „Wirf immer das Seil zurück über jene Mauer, über die du selbst zuvor gestiegen bist.“

„Freedom. A Photographic History of the African American Struggle“. Phaidon Verlag, Berlin 2002, 65 €