„In tödliche Tiefe gesunken“

Während Russlands Präsident Putin sich mit Gerhard Schröder um den Frieden sorgt, lässt er Tschetschenien weiter terrorisieren. Anna Politkovskajas Buch darüber wird ihm gar nicht gefallen

von BARBARA OERTEL

„Meine Arbeit birgt ein großes Berufsrisiko“, sagt die russische Journalistin Anna Politkovskaja. „Wer dessen müde ist und das nicht mehr aushält, sollte besser den Beruf wechseln.“ Schließlich verschwinden hier nicht selten missliebige Journalisten. Im besten Fall landen sie für ein paar Jahre im Gefängnis, manche werden auch ermordet.

Im Reiche des Wladimir Putin gilt: Das Morden, Foltern und Plündern in Tschetschenien soll möglichst unter Ausschluss lästiger Zeugen mit Notizbüchern, Aufnahmegeräten und Kameras geschehen. Welch enge Grenzen hier dem kritischem Journalismus gesteckt sind, hat Politkovskaja, Mitarbeiterin der Moskauer Tageszeitung Nowaja Gazeta, bereits am eigenen Leib erfahren: Sie wurde bedroht und vor Gericht angeklagt. Dennoch hat Politkovskaja jetzt auch ein Buch über Tschetschien geschrieben, das „Die Wahrheit über den Krieg“ öffentlich machen soll. In ihren Berichten, die sie seit 1999 regelmäßig in Tschetschenien recherchiert hat, enthüllt sie den wirklichen Charakter des russischen „Antiterrorkampfs“.

Dieser Kampf ist gnadenlos und macht keine Unterschiede. In Tschetschenien, einer Enklave der Recht- und Gesetzlosigkeit, sind alle Terroristen und folglich „zum Abschuss freigegeben“. Eine 62-Jährige wird von marodierenden, „säubernden“ russischen Soldaten von fünf Gewehrkugeln durchsiebt. Sie hatte kein Bier im Haus. Eine Schwangere darf auf dem Weg zum Krankenhaus einen Kontrollpunkt nicht passieren und verliert deshalb ihr Kind. Einem 15-Jähriger treten „Föderale“ bei Folterungen Nieren und Lunge aus dem Leib.

Solche Verbrechen bleiben meistens ungesühnt. Vor diesem Hintergrund nimmt sich der Alltag fast bedeutungslos aus – die ständigen Demütigungen und Erniedrigungen, die völlige Wehr- und Schutzlosigkeit der Opfer und ihr Wissen, dass jeder Tag der letzte sein kann.

Mehrmals gerät Anna Politkovskaja bei ihren Undercover-Missionen in Tschetschenien selbst in Lebensgefahr, wird von einer Beobachterin zur direkt Beteiligten. Wahrscheinlich ist es gerade diese erzwungene Schicksalsgemeinschaft, der Perspektivenwechsel wider Willen, der die Journalistin in die Lage versetzt, das Grauen in Worte zu fassen.

Jedoch beschränkt sich Politkovskaja nicht auf eine Chronik der Leiden, sie geht auch der Frage nach, wie der Krieg die Menschen verändert. „Russland macht uns zu Vieh“, sagt eine Tschetschenin und beschreibt so, wie dieser Kampf die Opfer auf den bloßen Überlebenstrieb reduziert – unter Preisgabe aller Menschlichkeit: So werden in der Not neuerdings Alte und Wehrlose einfach sich selbst überlassen – ein Verhalten, das ganz im Widerspruch zu tschetschenischen Traditionen steht. Oft sind Menschen erleichtert, ja fast erfreut, wenn sie sich auf Kosten eines anderen retten können. Kaum weniger schlimm ist die Denunziation, die in der Besatzungszeit kontinuierlich zunimmt.

Doch dieser Krieg verwüstet nicht nur Tschetschenien. Auch die russische Nation trifft er mitten ins Herz – und das nicht erst seit dem Geiseldrama in einem Moskauer Musicaltheater im vergangenen Oktober. Auch hier weiß Politkovskaja befremdliche Geschichten zu erzählen. Sie zeigen, wie der Krieg auf unvorstellbare Weise eskaliert: Ein Großvater begräbt nach einem 19-monatigen Behördenmarathon einen in Tschetschenien gefallenen Soldaten und weiß nicht einmal, ob es wirklich sein Enkel ist und wie er ums Leben gekommen ist. Eine Moskauerin verliert ihren Sohn bei der „Geiselbefreiung“ im Musicaltheater – „Todesursache unbekannt“ steht im Totenschein, daher keine Ermittlungen. Oder der Fall des russischen Obersten Juri Budanow, dem ein Gericht in Rostow am Don zum Zeitpunkt der Vergewaltigung und Ermordung einer Tschetschenin geistige Umnachtung attestiert.

„Tschetschenien als Denk-, Empfindungs- und Handlungsmuster breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür, infiziert alle Schichten der Gesellschaft und verursacht eine Tragödie von gesamtnationalem Ausmaß. […] Wir alle sind – wie die nicht gerettete ‚Kursk‘ – in tödliche Tiefe gesunken. Und keiner gibt den Befehl zu unserer Rettung“, schreibt Politkovskaja.

Dieser Befehl, der das Ende des Krieges in Tschetschenien voraussetzen würde, dürfte noch auf sich warten lassen. Denn die Maschinerie des Krieges läuft wie geschmiert, nicht zuletzt mit tschetschenischem Öl. Sie eröffnet famose Möglichkeiten zur eigenen Bereicherung: dem Rekruten, der einer Greisin die Rente im Austausch gegen den Kadaver ihres Mannes abpresst; dem Vertreter der moskautreuen tschetschenischen Verwaltung, der durch den illegalen Verkauf von Hilfslieferungen sein Einkommen aufbessert; und nicht zuletzt den Spitzen des russischen Verteidigungministeriums, denen es gelingt, ihren Einsatzetat zu frisieren und so Gewinne in ihre Taschen umzuleiten.

Nur ein internationales Protektorat könnte Tschetschenien eine Chance für die Zukunft eröffnen, stellt Politkovskaja fest. Doch zu Recht macht sie sich keine Illusionen über ein Engagement der internationalen Gemeinschaft. Derzeit haben die selbst ernannten Weltpolizisten in ihrem Antiterrorkrieg andere Sorgen, und auch der Sessel des Generalsekretärs der Vereinten Nationen ist zu bequem, um ihn wegen einiger hunderttausend Tschetschenen aufs Spiel zu setzen.

Dennoch wird Politkovskaja auch weiter gegen diesen Krieg anschreiben. Warum? „Ich bin überzeugt, es muss sein. Aus einem einfachen Grund: Wir sind Zeitgenossen dieses Krieges, und wir werden uns für diesen Krieg verantworten müssen. Und dann werden die klassischen sowjetischen Ausreden nicht mehr helfen: Ich war nicht dabei, ich habe mich nicht beteiligt …“ Die Zukunft wird Anna Politkovskaja Recht geben.

Anna Politkovskaja: „Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg“, übersetzt von Hannelore Umbreit u. Ulrike Zemme, 336 Seiten, DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003, 16,90 €