Im Rausch zur Sesshaftigkeit

Warum die Menschen sesshaft wurden, ist ein Rätsel geblieben. Der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf widerlegt die Annahme, dass es der Hunger war, der den Menschen auf den Ackerbau hat kommen lassen. Und behauptet: Am Anfang war der Überfluss, nicht der Mangel

In einer Zeit, in der in jedem kulturwissenschaftlichen Institut dieses Landes Geisteswissenschaftler mit Beamtenstatus mit leuchtenden Augen von Nomaden oder der Nomadologie meinen berichten zu müssen, ist die Frage, warum die Menschen sesshaft wurden, scheinbar gegen den Strom der Zeit gestellt.

Josef H. Reichholf, der die Frage in seinem neuesten Buch zu beantworten versucht, ist denn auch kein Geisteswissenschaftler, sondern Evolutionsbiologe und Ökologe. Was er sucht, ist eine Mischung aus Theorie und Empirie. Auch deshalb beginnt Reichholf seine Untersuchung bei den australischen Aborigines.

Die Aborigines hatten nie Ackerbau erfunden, sie blieben immer Sammler und Jäger und haben außer dem Dingo nie eine Tierart domestiziert. Es fehlten auf dem Kontinent der Beuteltiere schlicht die Kandidaten dafür.

Schwieriger ist es, zu erklären, warum die Aborigenes keinen Ackerbau erfanden. Dass Ackerbau in Australien möglich war und ist, bewiesen vor etwa 200 Jahren die europäischen Siedler, als sie dort anlandeten und sofort begannen alle möglichen Pflanzenkulturen anzulegen. Zudem beherrschten die Aborigenes die Bearbeitung von Stein und Holz, sie hatten ein exzellentes Wissen über die Natur des Landes und schufen genauso großartige Felsmalereien, wie sie in Europa in den späteiszeitlichen Höhlen in Frankreich und Spanien gefunden wurden. Minder begabt als die Menschenstämme, die den Ackerbau erfanden, waren sie also nicht. Was also, fragt Reichholf, steckt hinter der Erfindung des Ackerbaus in der Neolithischen Revolution?

Wobei es für Reichholfs geschichtsmaterialistischen Ansatz nicht unerheblich ist, dass er sich des in Australien erfundenen Begriffs des marxistischen Archäologen und Archäologietheoretikers Vere Gordon Childe bedient.

Childe hat 1936 für die Periode des Übergangs von den Jäger-und-Sammler-Gesellschaften zur sesshaften Lebensweise den Begriff „Neolithische Revolution“ eingeführt. In Anlehnung an den Terminus von der „Industriellen Revolution“ wollte Childe mit dem Begriff von der Neolithischen Revolution klarmachen, das in dieser Periode ein fundamentaler Einschnitt in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat.

Fundamental ist dieser Einschnitt, weil er durch Erfindungen wie die Sesshaftigkeit, die Vorratshaltung, die Keramikherstellung sowie die Tier- und Pflanzenzucht die Wirtschaftsweisen des Menschen so veränderte, dass buchstäblich nichts mehr blieb, wie es war.

Und auch wenn der Prozess der Neolithischen Revolution sich vermutlich über einen Zeitraum von 5.000 Jahren – etwa von 10000 v. Chr. bis 5000 v. Chr. – erstreckte, er also nicht so schnell vonstattenging wie die Industrielle Revolution, und an mehreren Orten unabhängig voneinander ablief, hat er Veränderungen mit sich gebracht, die bis heute die Entwicklungen menschlicher Gesellschaften beeinflussen beziehungsweise bestimmen.

Reichholf nun meint, es sei die geringere Bedeutung der Benutzung von Rauschmitteln in Australien und Schwarzafrika gewesen, die die Ausbildung der Sesshaftigkeit nicht nötig gemacht habe. Am Anfang vom Ackerbau standen für Reichholf Getreide, Hopfen, Bier, Hanf und Haschisch und die um die Rauschsubstanzen veranstalteten Kultfeste. Aus den Kulten, bei denen die „Stimmung“ immer wichtiger war als das Essen, entwickelte sich die Fron des Ackerbaus, „der nie so fröhlich war wie das Jagen“, wie er schreibt.CORD RIECHELMANN

Josef H. Reichholf: „Warum die Menschen sesshaft wurden“. Fischer Verlag, München 2008, 320 Seiten, 19,90 €