Die neue Lust am Strafen

Warnschussarrest, Erziehungscamps, Jugo- oder Jugendkrimialität und Hessen vorn: In „Ab nach Sibirien“ lässt Micha Brumlik über die Vorstellungen gerade abgetretener Salemer Rektoren und hessische Nochministerpräsidenten debattieren. Gute Argumente für einen Politikwechsel

Wer glaubt, Andrea Ypsilantis rot-rot-grüner Versuch in Hessen sei ein Irrweg, sollte den Sammelband „Ab nach Sibirien?“ lesen. Denn auch nach dem Abstand mehrerer Monaten, verliert Roland Kochs Kampagne gegen ausländische Jugendliche nichts von ihrem Ekel. Im Gegenteil. Die Stammtischparolen über die angeblichen „Lebenslügen“ nationaler Minderheiten, lassen rätseln, wie Koch immer noch Ministerpräsident sein kann.

Doch der vom Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik herausgegeben Band ist weit mehr als eine Aufarbeitung einer rassistischen Kampagne. Er stellt empirische Erkenntnisse über die Entwicklung der Jugendkriminalität und ihre Entstehensgründe neben die grundsätzliche Frage: Woher der Ruf nach immer mehr Härte? Woher die neue Lust am Strafen?

Brumlik meint, die Forderungen nach längeren Haftstrafen für kriminelle Jugendliche, Warnschussarrest und Erziehungscamps seien Ausdruck einer autoritären Sehnsucht, eines „kollektiven Unbewussten“, dessen prominenteste Projektionsfläche die Bild-Zeitung sei. Ein Medium im wahrsten Wortsinn, das Koch mit Schlagzeilen wie dieser unterstützte: „Hessen schickt Schläger nach Sibirien. Knallharte Strafmaßnahme anstatt Kuschelpädagogik.“

Ein anderes notorisches Bild-Opfer sind die „Sozial-Schmarotzer“.

Kein Zufall, folgt man dem Bielefelder Erziehungswissenschaftler Hans-Uwe Otto und seinen MitautorInnen. Sie verweisen in ihrem Beitrag auf Parallelen zwischen der Beschränkung sozialer Unterstützungsleistungen und einer verstärkten Repressivität gegenüber Kriminellen. Beides seien Folgen eines auf Eigenverantwortung und Antisozialstaatlichkeit abzielenden Diskurses, zwei Seiten einer Gesellschaft, in der die Ausschlussbereitschaft zugenommen habe.

Ob es tatsächlich der böse Neoliberalismus ist, der zu einer „punitiven Neuausrichtung der Kriminalpolitik“ geführt hat, sei dahingestellt. Tatsache ist aber: Das Strafrecht wurde seit Beginn der 90er-Jahre sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen erheblich verschärft.

Dabei gilt als unbestritten, dass bei Jugendlichen von immer schärferen Strafen keine Reduzierung der Kriminalität zu erwarten ist. Zudem ist seit 1999 die Kriminalitätsrate unter Jugendlichen gesunken, der Anteil der Straftaten, der von nichtdeutschen Jugendlichen begangen wird, ist sogar von knapp 28 Prozent auf gut 16 Prozent zurückgegangen, wie der Kriminologe Christian Pfeiffer in seinem Beitrag schreibt.

Er verschweigt dabei nicht, dass insbesondere türkische Jugendliche häufiger sowohl Opfer von Gewalt als auch Täter sind. Seine Analyse taugt aber nicht für populistische Parolen: „Es ist nicht die türkische Herkunft, die die Jugendlichen (…) besonders häufig zu Tätern der Jugendgewalt werden lässt. Verantwortlich sind vielmehr die belastenden Lebensumstände, unter denen junge Türken aufwachsen.“

Doch so umfassend der Band die Debatte um Jugendkriminalität abdeckt, könnte er doch an einem Punkt irren: Der Einschätzung, Koch sei gescheitert. Noch regiert er.

Keine drei Wochen nach der Hessenwahl hat der Bundesrat beschlossen, dass das Höchstmaß der Jugendstrafe bei Heranwachsenden von 10 auf 15 Jahren hochgesetzt werden soll. Und im Juni hat der Bundestag die nachträgliche Sicherungsverwahrung ausgeweitet, so dass nun auch Jugendliche für immer ins Gefängnis gesteckt werden können. Wer hat da gewonnen?

WOLF SCHMIDT

Micha Brumlik (Hg.): „Ab nach Sibirien? Wie gefährlich ist unsere Jugend?“. Beltz Verlag, Weinheim 2008, 235 Seiten, 14,90 €