Alles sehen, nichts verhindern

Im Visier der Überwachungs- kameras: Der Soziologe David Garland untersucht Sicherheitswahn und Kriminalitätspolitik, der Kulturwissenschaftler Dietmar Kammerer die Allmachtsfantasien in einer Kultur der Kontrolle

„Die Selbstverständlichkeit des Gefängnisses, von der wir kaum loskommen, beruht zunächst auf der Einfachheit der ‚Freiheitsberaubung‘.“ Michel Foucault

VON INES KAPPERT

Seit den 70er-Jahren feiert das Gefängnis einen gigantischen Siegeszug. Dabei ist längst belegt, dass die reine Inhaftierung vor allem begünstigt, dass der Delinquent weiterhin seinen Lebensunterhalt mit illegalen Mitteln bestreitet.

Vor 30 Jahren noch hatten Präventionsprogramme oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen viele Anhänger. Inzwischen, so die bittere Bilanz des Professors für Soziologie David Garland, hat sich die Praxis ebenso wie das intellektuelle Klima grundlegend gedreht: Allen voran die USA, aber auch Großbritannien vergewissern sich zunehmend ihrer Stärke, indem sie Vergeltung üben. Rache wird zum Kitt in einer stark segregierten Gesellschaft und stellt die Basis für die Rechtsprechung.

Dass überwiegend junge, nichtweiße Männer im Gefängnis landen, ist Garland das zentrale Indiz für sein steiles Fazit: Das Gefängnis ist zur tragenden Säule der britischen wie US-amerikanischen Gesellschaft avanciert, weil es geeignet ist, die Unterschichten zu verwalten, und dabei „die grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse unangetastet“ lässt. Es ermöglicht, so heißt es in der nun ins Deutsche übersetzten Studie, „Kontrollen und Verurteilungen auf gesellschaftliche Außenseitergruppen mit geringem Status zu konzentrieren, während das Verhalten von Märkten, Unternehmen und wohlhabenderen Schichten relativ frei von Regulierung und Kritik bleibt“.

In der Folge gelten Kriminelle kaum mehr auch als Opfer der Verhältnisse. Schuld wird individualisiert und der fehlerhafte Charakter zum Grund für das Verbrechen erklärt. Die Frage „Welche Lebensbedingungen begünstigen die Gewalttätigkeit einzelner?“ findet sich vergessen zugunsten der Fantasie: „Sind wir nicht alle Opfer?“

Das Unbefriedigende der prinzipiell anregenden Studie liegt in der Methode: Garland setzt auf Plausibilität. Empirisches Material findet sich vorrangig in Fußnoten verwahrt. Es dominiert der Gestus der Empörung und des „Einer muss ja mal die Wahrheit sagen“. Im Zuge dessen werden allzu viele rhetorische Fragen gestellt, auf die der Autor natürlich flugs eine Antwort präsentiert: „Warum haben wir so massiv in die private Sicherheit investiert und dermaßen blühende Märkte für die Ware Kontrolle geschaffen? Weil der altehrwürdige souveräne Staat für Bestrafung, aber nicht für die Sicherheit sorgen kann und dies den Wirtschaftsakteuren klar geworden ist, für die es dabei um einiges geht.“

Die These ist plausibel, doch wo sind die Fallbeispiele, wo ist der Beleg etwa dafür, dass die Gier der Entscheidungsträger in den 60er-Jahren von Gegenstimmen oder einer anderen Gesetzgebung besser reguliert wurde? Und der Rassismus früher weniger aggressiv war? Die Folge ist die Behauptung einer linearen Entwicklung bar jeder Widersprüche, die „uns“ direkt in eine Zukunft ohne Bürgerrechte und ohne Aufstiegschancen für die Unterprivilegierten führt.

Sehr anders baut der Kulturwissenschaftler Dietmar Kammerer seine Untersuchung zu einem ähnlichen Themenfeld auf: „Bilder der Überwachung“ ist soeben bei Suhrkamp erschienen. Kammerer liebt Geschichten. Insofern geizt der Autor nicht mit Beispielen. Darüber verliert die elegant geschriebene Studie jedoch nie ihr eigentliches Interesse aus dem Blick. Dieses gilt folgendem Widerspruch: Warum investieren westliche Demokratien so massiv in die Videoüberwachung, wo es doch mittlerweise amtlich ist, dass keine Kamera Verbrechen verhindern kann und selbst zur Aufklärung von Straftaten kaum taugt.

Nur in 3 Prozent der Fälle, so etwa die diesjährige kümmerliche Bilanz der britischen Polizei, trugen Videobilder zur Aufklärung bei. Großbritannien setzt wie keine andere westliche Demokratie auf die Überwachungstechnologie. Ja, selbst der Abschreckungseffekt sei minimal. Lapidar erklärte der Chef der Londoner Polizei diesen April: „Leute fürchten die Kameras nicht, weil sie annehmen, dass diese gar nicht funktionieren.“

Trotzdem büßt die Überwachungskamera ihre Popularität einfach nicht ein. Also muss sich ihr Mehrwert aus anderen Quellen speisen. Ihr Nutzen, so die These von Kammerer, liegt in der Imagination, die die von ihr produzierten Bilder freisetzen. Wenn man weiß, dass dieser unscheinbare Mann zwei Minuten später die Bombe in der Londoner U-Bahn zünden wird, dann sind auch verschwommene Bilder aufregend. Wenn man weiß, dass Lady Di, kurz nachdem sie die Drehtür ihres Hotels passiert hat, tödlich verunglücken wird, dann symbolisiert dieses an sich wenig aussagekräfte Drehtürbild, dass sie just in diesem Moment die Schwelle zum Tod übertreten hat.

Der Bildbetrachter nämlich ist mit einem Wissen ausgestattet, das den Beteiligten fehlt. Diese Idee, dass sich die Zukunft nachträglich voraussehen lässt, ist der Kern einer jeden Allmachtsfantasie. Und die Investition in eine omnipräsente Videoüberwachung lässt sich ohne Allmachtsfantasien, ohne die Idee, man könne das Leben kontrollieren, um den Tod zu bannen, nicht erklären: „Ich werde es immer schon gewusst haben.“ Diesem Zweck, dient die Imago von Prävention über Kameraüberwachung. Dietmar Kammerers spannende Studie fächert jenes Phantasma auf, ohne dabei die Karriere der Videoüberwachung willfährig mit einem Kulturdiskurs zu überziehen – also ohne zu entpolitisieren.

David Garland: „Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart“. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008, 394 Seiten, 34,90 €ĽDietmar Kammerer: „Bilder der Überwachung“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 282 Seiten, 13 €