Das Loch in der Brust

Zu viel Sehnsucht, zu viel Verlangen, zu viel Worte jeden Tag: Gunther Geltinger hat einen ebenso verblüffenden, raffiniert gebauten wie mitreißenden Debütroman geschrieben – in „Mensch Engel“ treibt er sowohl die Dinge als auch die Sprache auf die Spitze

„Roman: Die Form, die sich die Menschen schufen, als sie die wichtigsten Daseinsfragen nur mehr unter dem Gesichtspunkt der Privatangelegenheit zu betrachten vermochten.“ Walter Benjamin

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Hin und her geworfen wird man mit diesem Buch. Es ist alles drin, was ein Roman haben kann, und noch sehr viel mehr als das. Liebe und Schmerz, Pathos und Ernüchterung, Einsamkeitsheroismus und Sehnsucht, Wahnsinn, Entgeisterung, einfach alles. Es ist zu viel von alldem, und der Autor weiß das, sein Erzähler weiß das auch, weswegen er sich immer wieder zur Ordnung ruft. Vergeblich. Gut so. Gunther Geltingers Roman „Mensch Engel“ ist eines der waghalsigsten Debüts seit langer Zeit. Und eines der sprachlich mitreißendsten dazu. Denn hier spricht einer, der niemanden schont – nicht den Leser, nicht sich selbst, nicht die, die er liebt. Das sind viele, aber niemals genug.

Engel heißt der Mann, Leonard Engel, aufgewachsen in einer Kleinstadt am Main, der Vater Arzt, die Mutter dauerkrank, Engel schwul und schön. Es ist dies auch eine schwule Initiationsgeschichte, unter anderem. Es ist jedoch vor allem eine Depressionsgeschichte, die in Sprache gefasst wird. So erklären sich die Höhen und Tiefen, denen der Protagonist ausgesetzt ist. Und Geltinger hat sich selbst und seinen Erzähler abgesichert gegen jegliche Vorwürfe. Die Sicherung liegt in der Erzählkonstruktion. „Engel schreibt:“, so lautet der erste und der letzte Satz des Romans. Die Situation ist folgende: Engel sitzt an seinem Schreibtisch in einer Kölner Wohnung, die er mit seinem Lebensgefährten, einem Lehrer, bewohnt. Es ist eine Ausnahmesituation, so viel ist zu spüren. Engel also schreibt, schreibt sein Leben auf, denkt sich sein Leben neu. Das ist das Vorteilhafte am Roman: Er kann ganze Leben erfinden, ohne eine Grenze zur Realität ziehen zu müssen. Er kann Geisteszustände sichtbar machen, ohne sich dabei allzu streng an die Wahrheit zu halten. Denn – was ist schon Wahrheit? Der Roman schafft sich seine eigene.

So verfährt auch Engel. Er rekapituliert seine Beziehung zu dem schönen Marius, den er irgendwann verleugnet. Und dann schreibt er solche Sätze: „Marius sah ihn mit solch dramatischen Gesichtsausdruck an, als hätte er gerade vor dem Weltgericht gestanden, dass er in Wirklichkeit nicht Marius Raab aus Kleinwelderstadt, sondern Judas aus Palästina sei und Jesus geküsst habe, aber nicht, weil er ihn habe verraten wollen, sondern weil er einfach scharf auf ihn gewesen sei, und dann habe die Katastrophe eben ihren Lauf genommen.“ Das ist hart, das merkt auch der Erzähler, also geht es weiter: „Engel zögert und berührt schon die Löschtaste und lässt den Judas-Vergleich dann doch stehen, obwohl dieser so oder in anderen Zusammenhängen schon oft bemüht worden ist und daher auf wackeligen, nein, eher auf Klumpfüßen steht, denn im Grunde ist es ihm, Engel, doch völlig egal, ob die Füße wackelig oder klumpig sind oder ob da überhaupt Füße sind …“ Und so weiter.

So geht das in einem fort, nach dem Motto: Ich weiß um jede Peinlichkeit und lasse sie trotzdem stehen. Das ist das Recht des Romans. Das Recht des Rezensenten ist es, in einem solchen Fall ganz dezent anzumerken: Da steht sie dann eben auch für immer, die Peinlichkeit. Und man muss aushalten, dass die Manierismen durch die ausdrückliche Betonung des Manieristischen noch manierierter werden. Das fällt in diesem Fall jedoch nicht besonders schwer. Denn Gunther Geltinger ist ein Autor mit großen Fähigkeiten. Und einer, das ist das Erstaunliche, der seine Sprachwalze für ganz kurze Momente immer wieder anzuhalten vermag, um kleine Beobachtungen einzustreuen, Randbemerkungen von allerhöchster Pointiertheit: „Der Schlaf kam pünktlich und zuverlässig mit den seifig schmeckenden Tabletten, er machte die Tage kurz und die Nächte traumlos und tot; aus den zwei Wochen, die ich ursprünglich in Steinhof bleiben sollte, wurden neun Monate.“ Daraus hätte Thomas Bernhard einen ganzen Roman gemacht.

Steinhof, das ist, volkstümlich gesprochen, die Irrenanstalt von Wien, Engels nächster Lebensstation. Dort studiert er an der Filmakademie, jedenfalls versucht er das; weit kommt er nicht, denn Engel ist verrückt. So einfach lässt es sich sagen. Manisch-depressiv wäre der Fachausdruck dafür. Aber auch das ist ein Vorzug des Romans – dass er den Verrückten nicht nur eine Stimme geben, sondern zu deren Stimme werden kann, mit allen Konsequenzen. Natürlich reißt Engel sich zusammen, doch ein zuverlässiger Erzähler ist er noch lange nicht. Er lügt und löscht, zaudert und gibt sofort wieder Vollgas, schmeißt die Chronologie durcheinander und kommt immer wieder zum Grundmotiv seines erschreckenden Daseins zurück: „Dein innerer Tod, den du hier zelebrierst, das Loch in deiner Brust, über das du dich exaltierst, all das ist doch in Wahrheit dieses kleine, alles entscheidende Quäntchen Zuviel, zu viel Sehnsucht, zu viel Verlangen, zu viele Worte jeden Tag.“ Nüchtern betrachtet, wäre es genau das, was man auch über „Mensch Engel“ selbst sagen müsste, doch da hat Geltinger uns längst in der Tasche und schickt uns seinem Helden und dessen Loch in der Brust hinterher. Das Loch in der Brust, das ist beinahe ein pubertärer Zustand, den Engel sich erhalten hat und dem er rücksichtslos folgt.

Aus Wien und den Fängen des Strichjungen Tiago eben so entronnen, flieht Engel nach Frankreich zu seiner jüngeren Schwester und deren Mann Cyril und entfacht dort die nächste Katastrophe. Schreibt Engel. Später schreibt er etwas Anderes. Was man glauben darf, bleibt offen. Sicher ist, dass dieser Mann kein Unglücksrabe, sondern ein Apokalypsenengel ist. Er treibt die Dinge auf die Spitze, so wie Gunther Geltinger die Sprache auf die Spitze treibt. Das ist das gute Recht des Romans, und hier ist es ästhetisch glaubhaft gelöst. Tabletten, Sex und Depression. Rausch, Wahn und Einsamkeit. Und hinter alldem, versteht sich: Sehnsucht. Und deren Kehrseite, die blanke Angst, Lebensangst, Verlustangst. Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass die Selbstverletzung eines der Leitmotive ist, die den Roman durchziehen; ebenso überflüssig zu erwähnen, dass es hier nicht bei bloßen harmlosen Ritzereien bleibt, sondern dass es ein großes Messer sein muss, mit dem Engel sich die Brust aufschneidet.

Schmerz, Entgrenzung, Depression, Wahnsinn – das sind keine neuen Topoi der Literatur, und doch: Zu keinem Zeitpunkt kommt der Gedanke auf, man habe es mit einer kalkulierten Sache zu tun. Wer so weit geht, wer die Möglichkeiten des Romans bis an die sprachlichen Grenzen ausreizt, der darf sowieso alles. Mensch Geltinger, klasse gemacht.

Gunther Geltinger: „Mensch Engel“. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2008, 272 Seiten, 19,90 €