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Archiv-Artikel

Die Türkei macht Ernst

Das Land erzwingt nach dem Veto eine Nato-Beratung über den Bündnisfall

ISTANBUL taz ■ Als erstes Land in der Geschichte der Nato hat gestern die Türkei formell einen Antrag auf Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Statuts gestellt, um über die Bedrohung des Landes zu beraten. Mit Verwunderung hatte man seit Tagen nach Brüssel geschaut, wo das Bündnis gestern über die Bereitstellung von „Patriot“-Abwehrraketen für die Türkei beraten wollte. Was zunächst wie eine Formalie erschien, entwickelte sich plötzlich zu einer scheinbar existenzbedrohenden Frage für die gesamte Allianz. Als Frankreich und Belgien trotz massiver US-Drohungen am gestrigen Vormittag mit deutscher Unterstützung ein Veto gegen die Beschlussfassung über „Patriot“-Lieferungen einlegten, war die bislang höchste Eskalationsstufe im Streit zwischen Alt-Europa und den USA erreicht. Nun will die Türkei formell über den Bündnisfall beraten.

Ursprünglich ging der Wunsch nach „Patriot“-Systemen zum Schutz für die Türkei von Washington aus. Die USA baten die Nato, „Patriots“ für die Türkei bereitzustellen, damit das Land gegen irakische Scud-Raketen geschützt werden kann. Da Deutschland als potenzieller Lieferant der Systeme Bedenken gegen den Zeitpunkt einer Nato- Beschlussfassung anmeldete, machte die türkische Regierung dann klar, dass es sich bei der amerikanischen Bitte nicht nur um eine diplomatische Finesse handelt, um Bundeskanzler Schröder in innenpolitische Schwierigkeiten zu stürzen, sondern Ankara für den Fall eines Krieges tatsächlich um Lieferung von „Patriots“ bittet. Für die Türkei stellte sich die Situation zunächst ähnlich widersprüchlich dar wie für andere europäischen Regierungen, die einen Waffengang verhindern wollen. Einerseits betonte die Regierung unablässig, man werde alles zur Kriegsvermeidung tun, andererseits wollte man für den Fall des Falles gewappnet sein.

Seit in der letzten Woche das Parlament US-Bautrupps genehmigte, auf Flugplätzen und Häfen ihre Arbeit zur Anpassung an die Bedürfnisse der US-Kriegsführung zu beginnen, ist in Ankara die Entscheidung de facto gefallen. Ministerpräsident Gül erklärte, die Möglichkeiten, einen Krieg abzuwenden, seien ausgeschöpft. Entsprechend ernsthaft drängt die Türkei nun auf Hilfe durch die Nato. Wenn man von der Nato-Vormacht schon in einen Krieg gedrängt wird, soll sich die Nato auch an einer Schadensminimierung beteiligen. Dass der deutsche Verteidigungsminister angekündigt hatte, man werde der Türkei „Patriots“ direkt, also bilateral, zur Verfügung stellen, wurde offiziell gestern nicht kommentiert. Zu dem deutsch-französischen Plan einer Ausweitung des UN-Einsatzes im Irak sagte Außenminister Yakis, er habe offiziell davon keine Kenntnis und könne ihn deshalb auch nicht beurteilen. JÜRGEN GOTTSCHLICH