China steht still

Müllhalden und Industrieruinen, riesige Internetcafés und Rollschuhdiskos: Sheng Zhimins dokumentarischer Spielfilm „Xin Xin“ im Forum über das orientierungslose Leben reicher und armer Jugendlicher in Peking

Xin Xin ist so eine richtig verwöhnte Rotzgöhre. Wie sie mit jeder Geste ausstrahlt: Ich bin gelangweilt. Die Füße kaum hebt. Die Sonnenbrille auch nachts nicht absetzt. Wie sie von zu Hause ausreißt und einem Jungen nachläuft, der nichts von ihr will, nur, damit sie wenigstens eine einzige Sorge hat. Xin Xin ist ein völlig normales, pubertierendes Mädchen, das nicht weiß, wohin mit sich – ein Mädchen, wie es auch durch die Straßen Berlins, Londons, New Yorks ziehen könnte. Nur eines unterscheidet Xin Xin von anderen Jugendlichen auf dieser Welt: Sie lebt in Peking. In Peking können es sich nur wenige leisten, so zu leben wie sie. Sie ist Kind privilegierter Neureicher, die ihre Kinder zum Studium wegschicken.

Doch der Film des chinesischen Regisseurs Sheng Zhimin, der seinen Film wohl auch in Zukunft in seiner Heimat nur in privaten Kreisen wird zeigen können, widmet sich nicht nur dem Leben seiner Heldin Xin Xin. Wie um ihre dekadente Ziellosigkeit zu kontrastieren, lernt Xin Xin übers Internet Ting Ting kennen, ein armes Mädchen vom Land, das ihr Geld mit Telefonsex verdient. Sie verlässt ihre trostlose Baracke nie, geht immer ans Telefon, wenn es klingelt, und bringt ihren Chef nur mit Mühe dazu, ihr den Lohn auszuzahlen. Xin Xin und Ting Ting verbindet nicht nur ihr Freundinnengespräch in einem Chatroom, sondern auch, dass beide Einzelkinder sind – so wie die meisten um 1980 Geborenen in China –, dass sie viel mit ihren Eltern telefonieren und traurig sind, das Neujahrsfest nicht mit ihnen verbringen zu können.

Auch wenn man anfangs Schwierigkeiten hat, die Gesichter zuzuordnen, ist man als Zuschauer schnell gefangen von Sheng Zhimins Art, einfach die Kamera auf seine Laiendarsteller zu richten und die Dinge geschehen oder eben nicht geschehen zu lassen. Im Publikumsgespräch später sagt er, er habe damit spiegeln wollen, dass in China zwar sehr viel passiert, eigentlich aber alles stillsteht. Auf die Frage, warum seine Jugendlichen sich so oft anschreien oder prügeln und die Männer ziemliche Chauvis seien, sagt er, er habe in seinem Drehbuch keine Dialoge geschrieben, sondern seinen Darstellern gesagt, sie sollen einfach tun, was sie sonst auch tun. „Die jungen Leute sind orientierungslos. Während der Dreharbeiten fühlte ich eine Kälte um mich herum wie nie zuvor.“ Vielleicht ist es diese Fremdheit des Regisseurs gegenüber dem eigenen Stoff, diese wohltuende Verunsicherung, die den Film davor bewahrt, denunziatorisch zu werden wie viele europäische Dokuspielfilme – man denke nur an „Hundstage“ oder „Der Glanz von Berlin“.

Sehr interessant an Zhimins Film ist auch, beobachten zu können, wie und an welchen Orten sich das Leben der Jugendlichen in Peking abspielt, auf Müllhalden und in Industrieruinen, in übervollen Internetcafés in der Größe von Lagerhallen, in denen man auch mal übernachtet, in illegalen Billardcafés, in die man nur über versteckte Kellerluken gelangt, in Rollschuhdiskos, wie man sie nie in echt, sondern nur in amerikanischen Teeniefilmen aus den Siebzigern oder in „La Boum“ gesehen hat. Und wem das alles noch nicht reicht, dem sei noch diese Szene ans Herz gelegt: Als Xin Xin mal ihre Freundin im Puff besucht und dort zufällig auch ihren Vater entdeckt, reagiert sie überhaupt nicht wütend, sondern handelt hinter seinem Rücken das Mädchen, mit dem er aufs Zimmer will, auf einen Freundschaftspreis herunter. SUSANNE MESSMER

Heute, 13.15 Uhr, CinemaxX 3