Zug fahrende Utopie

Auf den Spuren von Marquez’ „100 Jahre Einsamkeit“: Ramón Chao, Autor und Vater des Musikers Manu Chao, liest aus seinem jetzt auf deutsch erschienenen Roadbook „Ein Zug aus Feuer und Eis. Mit Mano Negra in Kolumbien“

„Da kommt etwas Unheimliches, so was wie eine Küche, die ein ganzes Dorf hintendrein schleppt“, ruft ein Kind, als der aus Schrottteilen zusammengebastelte Zug mit den 21 von Studierenden der Kunstakademie in Bogota gestalteten Waggons und Themenwagen in den Bahnhof des kleinen Ortes Aracataca an der kolumbianischen Atlantikküste, den Geburtsort Gabriel Garcia Marquez’, einfährt. Schienen gibt es in Kolumbien zwar überall, aber Züge fahren in dem durch den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen Armee, Guerillas und Drogenmafia gezeichneten Land kaum noch. Fast die Hälfte des 3.000 Kilometer umfassenden Netzes ist in den letzten 40 Jahren verfallen, ganze Regionen sind vom günstigen Verkehrsmittel abgeschnitten.

Auf das marode Eisenbahnsystem des Landes und die gesellschaftlichen Verhältnisse aufmerksam zu machen, ist denn auch eines der zentralen Ziele der anfangs 100-köpfigen internationalen Truppe, die sich 1993 auf den Spuren von Marquez’ „100 Jahre Einsamkeit“ auf die rund 1.000 Kilometer lange Reise von Santa Marta an der Karibikküste bis nach Bogota im Hochland der Anden macht, quer durch das ländliche Kolumbien, mit 15 Kilometern pro Stunde.

Die vor allem aus Frankreich, Brasilien und Kolumbien stammenden Künstler, Musiker und Gaukler machen auf ihrer stets von Entgleisungen, der Armee, der Guerilla und den Milizen der Drogenhändler bedrohten Reise in jedem größeren Ort Halt und veranstalten für die verarmte Landbevölkerung ein kostenloses Spektakel, das jedes Mal in kürzester Zeit mehrere tausend Menschen zusammenbringt und zum Volksfest wird. Konzerte, Zirkus und Jahrmarkt in einem bringt der „Zug aus Feuer und Eis“: Einer der Waggons wird schon bei der Einfahrt in den Bahnhof angezündet, in einem anderen findet sich ein fünf Tonnen schwerer Eisklotz – mit ebensolchem beginnt Marquez’ „100 Jahre Einsamkeit“. Dazu gibt es die „Grotte des Eisbären“, einen Feuer speienden metallenen Leguan, eine Bühne für die Bands, einen Tätowierwagen und einen Wagen für Trapezkünstler und Artisten. Im „Traumbüro“ kann man seine Wünsche in ein Buch eintragen, darunter immer wieder einer: das Ende des Krieges. Eine konkrete Utopie, ein Zug fahrender Waffenstillstand.

Unter den Reisenden ist auch die französische Band „Mano Negra“ um den mittlerweile weltberühmten Musiker Manu Chao. Das vierte Album der Combo, „Casa Babylon“, entsteht während der Reise. Die an Strapazen reiche Fahrt zerrt indes an den Nerven aller Beteiligten, viele verlassen den Zug, darunter auch Mitglieder von „Mano Negra“ – am Ende hat sich die Band aufgelöst.

Bis zum Schluss dabei gewesen ist aber Ramón Chao, Autor und der Vater des Musikers. Seine Aufgabe war die des Chronisten, entstanden ist daraus die Reportage „Ein Zug aus Feuer und Eis. Mit Mano Negra in Kolumbien“, die jetzt, 14 Jahre nach dem französischen Text, auch auf deutsch erschienen ist.

Chao berichtet in tagebuchartigen Einträgen intensiv und lebendig von seinen Eindrücken, beobachtet genau, begleitet die Künstler im Alter seines Sohnes mit wohlwollender Sympathie, aber stets mit der gebotenen Distanz. Nicht die Gruppe steht im Zentrum, sondern wie sie bei den Menschen ankommt. Die besuchten Orte setzt Chao in ihren historischen Kontext, erzählt von der Entstehung der Guerilla oder dem Tod des Drogenbarons Escobar. Heute Abend liest er im Kölibri aus seinem Buch. Ganz sicher nicht nur was für Manu Chao-Fans. ROBERT MATTHIES

Do, 16. 10., 19.30 Uhr, Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12; Ramón Chao: „Ein Zug aus Feuer und Eis. Mit Mano Negra in Kolumbien“, Edition Nautilus, 240 Seiten mit 30 S / W-Fotos, 14,90 €