Vertraut im Fremdsein

Sema Kaygusuz hat einen komplexen Roman über Selbstfindung und -erfindung und die Loslösung von den Eltern geschrieben. Im Oktober ist die türkische Autorin als „Stadtschreiberin“ im Literaturhaus in der Fasanenstraße zu Gast und übt, sich in den Straßen der Stadt zu verlieren

VON ANDREAS RESCH

Was ihr besonders an Berlin gefalle, sagt Sema Kaygusuz, sei die Stille. Das mag zunächst überraschend klingen, wenn man selbst regelmäßig das Gefühl hat, dieser Stadt und ihrer Hektik entfliehen zu müssen. Doch für jemanden, der eigentlich in der lärmenden Metropole Istanbul zu Hause ist und nur ein paar Wochen zum Schreiben in Berlin verbringt, ist es tatsächlich so: Berlin, ein Ort der Ruhe.

Die 1972 im anatolischen Samsun geborene Schriftstellerin, deren erster Roman „Wein und Gold“ gerade in seiner deutschen Übersetzung im Suhrkamp Verlag erschienen ist, verbringt zurzeit einen Monat als „Stadtschreiberin“ im Literaturhaus und veröffentlicht ihre Eindrücke regelmäßig in einem Internettagebuch. „Von den Plätzen aus über einen der breiten Boulevards in eine endlose Straße einzutauchen, gezielt zu verschwinden versuchen“, heißt es in ihrem Eintrag vom 25. September, „ruft Erinnerungen an meine Kindheit in mir wach. Ich habe mich derart daran gewöhnt, mich nicht zu gewöhnen, dass ich verwinkelte Wege einschlage, um nicht noch einmal durch die gleiche Straße zu gehen“.

In ihrem Tagebuch thematisiert sie ein vertrautes Gefühl des Fremd-Seins, des Nie-Ankommens, und der Akt des Schreibens scheint Sema Kaygusuz dabei zu helfen, sich zumindest für einen Augenblick zu verorten. Sie betreibt Selbstbeschreibung im doppelten Wortsinn: als Schilderung des in sich Wahrgenommenen und gleichzeitig als sich selbst erschaffend im Geschriebenen. Dabei begreift Sema Kaygusuz ihr Werk als Teil einer langen Tradition türkischer Oraldichtung, in der das Erzählen von Geschichten eine primär kommunikative Funktion einnimmt. Ihre Texte, sagt sie, seien immer an einen, wenn auch imaginären, Leser gerichtet.

Im Gespräch sieht Sema Kaygusuz ihr Gegenüber meist direkt an, sie raucht viel und es gelingt ihr verblüffenderweise, gleichzeitig verständlich und unverständlich zu sein. Ähnlich verhält es sich auch mit ihrer Prosa – und das ist durchaus positiv gemeint –, der man sich unmöglich mit Termini wie Realismus oder Phantastik annähern kann, da alles aus dem Kopf der Protagonistin Leylan heraus erzählt wird, für die solche Begriffe keinerlei Rolle spielen.

In „Wein und Gold“ geht es um das schwierige Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, um die Notwendigkeit einer Ablösung, einer symbolischen Tötung, um sich selbst zu finden. Im Roman wird diese Tötung, zumindest als Möglichkeit, ganz konkret, denn Leylan, eine junge Bibliothekarin, wird von ihrer Umgebung verdächtigt, ihren Vater umbringen zu wollen. „Man hatte mir einen hinterhältigen Mord zugetraut. Und das Schlimme war, ich hatte mich sofort an meine Hinterhältigkeit gewöhnt.“

Tatsächlich imaginiert Leylan immer wieder den Tod ihres Vaters – „Ich verbrühte ihn mit kochendem Wasser, stieß ihm das Messer in die Brust“ – und diese Gedanken haben eine ganz konkrete, für andere wahrnehmbare Realität. Überhaupt ist die Insel, auf der die Geschichte spielt, ein Ort mit seinen ganz eigenen Gesetzen. Mutmaßungen etwa „wirken sofort nach innen und dringen bis ins Mark der Menschen“. Ein Ort, in dem Innen und Außen nahtlos ineinander übergehen, als hätten sich Freud, Breton und Homer zusammengetan, um gemeinsam einen Roman zu schreiben.

Sema Kaygusuz sagt, ihr Buch sei „unter existenziellen Schmerzen entstanden“. Fast schon buddhistisch klingt das, wenn die Autorin von einer Zerstörung des Selbst beim Schreiben spricht. Letztendlich wurzelt diese Sicht wohl in einem Glauben an einen nie zu Ende zu bringenden Prozess, in dem der Mensch rational seine Emotionen zu begreifen versucht und sich dadurch „je nach Perspektive“ entweder stets einen Schritt voraus ist oder einen Schritt hinterherhinkt. Nur wer fähig sei, diese Aporie zu ertragen, sei auch „in der Lage, sich selbst zu befreien“.

Im Roman erlöst Leylan ihren Vater dadurch, dass sie ihn dazu bringt, ihr Geschichten zu erzählen und sich dadurch von der Last seiner Vergangenheit zu befreien. Ein schöner Gedanke.

Sema Kaygusuz: „Wein und Gold. Roman“, Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2008. 24,80 Euro, 391 Seiten. Internettagebuch unter www.goethe.de/yakinbakis