In den Herzkammern der Düsternis

Einst galten Massive Attack als einflussreichstes DJ-Kollektiv der vergangenen Dekade. Heute ist davon nur Robert Del Naja geblieben, der in einem Studio in Bristol über das Erbe wacht und sich in der Antikriegsbewegung engagiert. Im Alleingang hat er das neue Album „100th Window“ eingespielt

von MAX DAX

Bristol ist eine dunkle Stadt – vor allem im Winter, wenn der nasskalte Atlantikwind in die Stadt weht. Die von Regen und Rauch geschwärzten Häuser, eng an eng, sehen aus wie kleine gotische Festungen, abweisend, verwunschen, fremd. Autos schieben sich durch die kleinen, gewundenen Straßen. Es ist kalt, es schneit, und zu allem Überfluss bricht bereits um fünf Uhr nachmittags die Nacht herein.

Der Weg zum Churchhouse Studio, in welchem Massive Attack ihr eigenes Studio betreiben, führt am alten Hafenbecken vorbei. Fotokopierte Zettel an den Häuserwänden kündigen Partys an, auf denen lokale DJs, die wie Roni Size oder DJ Krust längst europaweit Karriere gemacht haben, gelistet sind. Das also ist Bristol, die Stadt, aus der Anfang der Neunziger der Dub, die Langsamkeit, die Deepness und der Soul kamen – deren Protagonisten seitdem eine Spur der Melancholie in allen wesentlichen urbanen Musikstilen, seien es TripHop, Drum ’n’ Bass oder Downbeat, hinterlassen haben.

Das Churchhouse Studio ist in einem dunklen ehemaligen Kirchengebäude untergebracht. Die engen, verwinkelten Treppen und Flure über drei Stockwerke lassen erahnen, wie groß die hinter den Türen liegenden Aufnahmeräume sein müssen: Alles ist voll gestellt mit Kisten voller Kabel, ausrangierter Computer, Lautsprecher und Mikrofone. In einer kleinen Rumpelkammer mit schräger Decke sitzt Robert Del Naja alias 3-D. Offenbar damit der nackte Raum nicht ganz so trostlos ausschaut, brennen vier Teelichter auf seinem schmucklosen Büroschreibtisch.

Hier erzählt Del Naja, wie „100th Window“, das neue Massive-Attack-Album, entstanden ist, und davon, wie die Band auseinander brach und nur noch er übrig blieb. Er spricht vom Fußball, dem drohenden Irakkrieg, vor allem aber von seinen Reisen nach Neapel, der Heimatstadt seines Vaters. Del Naja ist fasziniert von der Irrationalität, der Spiritualität und den Geheimnissen der süditalienischen Stadt. „Ich habe es erlebt, wie bei Einbruch der Nacht Fremde nicht mehr länger willkommen sind, sie sind Eindringlinge. Dahinter steckt diese Idee, dass die Geister nachts herauskommen und die Menschen ihre Türen schließen“, sagt er. Del Naja redet von Neapel. Aber alles, was er sagt, könnte auch für „100th Window“ gelten.

Angeblich hatte Del Naja in eineinhalb Jahren weit über achtzig Songs aufgenommen, nur um sie allesamt wieder zu verwerfen. Übrig geblieben sind neun Songs und ein fast zwanzigminütiger Bassloop mit dem Titel „Antistar“, der das Album wie eine unbeantwortete, ins Nichts gestellte Frage ausklingen lässt.

„Früher“, sagt Del Naja, „mussten wir uns zu dritt immer einig werden. Das resultierte in einer gewissen Tanzbarkeit, obwohl wir uns nie als Tanzband begriffen haben.“ Jetzt, wo er sich mit niemandem mehr einig werden muss, soll auch niemand mehr zu Massive Attack tanzen müssen: „100th Window“ – der Titel geht auf ein Buch über Datensicherheit zurück – ähnelt vielmehr einer Meditation: Arabische Streicher, abgebremste High-End-Beats, ein gewaltiger Bass-Unterbau, wechselnde Sänger und beeindruckende Klangflächen wurden von Del Naja zu einer detailverliebten Dub-Elektronika-Fusion raffiniert.

Anfang der Achtziger war noch nicht absehbar, dass Massive Attack einmal als einflussreichste britische Band eines ganzen Jahrzehnts gelten würden. Damals hatten sich die drei Gründungsmitglieder Del Naja, Mushroom und Daddy G mit Nellee Hooper, Tricky, DJ Milo und noch einigen anderen mehr zu einem losen DJ-Kollektiv namens The Wild Bunch, benannt nach dem Western von Sam Peckinpah, zusammengeschlossen. Schon damals war ein geradezu krankhafter Ehrgeiz ein herausragendes Merkmal dieser Plattenauflegerbande. Man hatte sich schlichtweg ausstechen wollen, damals, stets den anderen übertrumpfen wollen mit noch aufregenderen Mixes aus Dub, Soul, Punk, Reggae und dem gerade erstmals frisch in New York gehörten neuen Musikstil namens HipHop. Und weil das so war, waren die Abende im Bristoler Dug-Out-Club, in dem die Wild Bunch einzog, regelmäßig rappelvoll. The Wild Bunch war das erste britische DJ-Kollektiv, das zum Auflegen nach Japan eingeladen wurde. Doch später in den Achtzigern begannen die Protagonisten, sich jeder um seine eigene Karriere zu kümmern. Nellee Hooper gründete in London Soul II Soul; Del Naja, Mushroom und Daddy G hoben Massive Attack aus der Taufe.

Bereits mit ihrem Debütalbum „Blue Lines“ 1991 wurden die drei als revolutionäre Erneuerer urbaner Soulmusik gehandelt. Eine zuvor unbekannte Gastsängerin namens Shara Nelson sang auf „Blue Lines“ zwei Songs, die genügen sollten, um sich für alle Ewigkeiten an sie zu erinnern: „Unfinished Sympathy“ mit seinem Streichorchester und dem Glockenspiel sowie „Safe From Harm“, der Dancefloor Stomper mit dem Billy-Cobham-Sample und dem berühmt gewordenen Refrain „You can free the world / You can free my mind / Just as long as long as my baby is / Safe from harm tonight“. Ganz nebenbei war „Safe From Harm“ auch der erste Hit von Tricky, der neben Nelson die Rap-Stimme sang. Und Geoff Barrow, der wenige Jahre später die Band Portishead gründen sollte, fungierte auf „Blue Lines“ als Recording Engineer.

Von allen Seiten wurde „Blue Lines“ damals schon der Status eines Klassikers attestiert. Massive Attack hätten also lediglich dort weitermachen müssen, wo sie 1991 aufgehört hatten, doch es kam anders. Seit Shara Nelson, die Stimme, Massive Attack nach dem ersten Album verließ, weil sie sich fortan – wenngleich erfolglos – ihrer Solokarriere widmen wollte, ist die Geschichte von Massive Attack auch eine Geschichte ihrer wechselnden Gastsängerinnen gewesen. Auf drei Songs des neuen Albums ist nun Sinead O’Connor zu hören. Immer dabei waren, so Robert Del Naja, eigentlich nur „Horace Andy, der legendäre Studio-One-Sänger aus Jamaika, sowie der fortwährende, zermürbende Streit zwischen Mushroom, Daddy G und mir“. Angeblich soll es die Unnachgiebigkeit Del Najas gewesen sein, der auf „Mezzanine“ auf Gitarrenwände bestand, der die Gruppe schließlich auseinander brechen ließ.

„100th Window“, das vierte Studioalbum in zwölf Jahren, ist in diesem Sinne vielleicht die viel größere Wegscheide für Massive Attack, als es all die Zerreißproben zuvor gewesen waren, ist es doch praktisch ein Solowerk Del Najas. Zwar heißt es, dass Daddy G nach seinem Vaterschaftsurlaub zur Tournee im Frühling wieder als vollwertiges Mitglied zu Massive Attack dazustoßen wolle. Vergleicht man den Sound von „100th Window“ aber mit dem Debüt von vor über einem Jahrzehnt, dann hört man zwei verschiedene Bands. Das neue Album ist ruhiger, introvertierter und vielleicht sogar routinierter. Man kann in der Ruhe und Geradlinigkeit von „100th Window“ aber auch ein ganz und gar kraftvolles Album, eine Studie in Repetition und Gelassenheit sehen. Ein Album, das Grabenkämpfe und Experimente hinter sich gelassen hat und gravitätisch in sich ruht. Das Thema, das „100th Window“ – wie alle anderen Massive-Attack-Alben davor – durchzieht, ist der Versuch, der Suche nach Würde, Liebe, Schutz und Frieden eine gewissermaßen epische musikalische Form zu geben. Liest man den Text der Single „Special Cases“, dann wähnt man sich in einer Soulnummer wie vor etlichen Jahren: „The deadliest of sin is pride / Makes you think that you’re always right / But there are always two sides / It takes two to make love / Two to make a life.“

Wie ein Déjà-vu erscheint dagegen der Umstand, dass jetzt schon zum dritten Mal in der Geschichte der Band der Erscheinungstermin eines Albums mit einer Eskalation des lange währenden Irakkonflikts zusammen fällt. Als am 17. Januar 1991 der erste Irakkrieg ausbrach und in den Nachrichten fortwährend von massiven Angriffen die Rede war, welche die Streitkräfte der US-Allianz gegen den Irak geflogen hätten, nannte sich die Band spontan in „Massive“ um. Pünktlich zur Veröffentlichung von „Mezzanine“ 1998 drohte Bill Clinton dem Irak mit Krieg. Und heute, im Februar 2003, erscheint die Kriegsgefahr wieder größer denn je. „Manchmal ertappe ich mich dabei, wie es wohl wäre, einfach aus Sturheit das gleiche Spiel noch einmal zu wiederholen“, räsoniert Del Naja darüber, den Namen abermals zu ändern. „Einfach, um den Leuten zu sagen: Es passiert wieder, und es ist immer noch falsch.“

„Wie viele andere Enddreißiger auch bin ich in den letzten Jahren stark politisiert worden“, sagt Del Naja über sich selbst. Im September letzten Jahres, als der Aufmarsch am Golf begann, hatte er versucht, gemeinsam mit anderen britischen Musikern in der Musikzeitschrift NME eine Anzeigenserie gegen den Irakkrieg zu initiieren. Ganze zwei Mitstreiter bekam er damals zusammen, Brian Eno und Damon Albarn, den Sänger der Gruppe Blur. Die meisten lehnten die Anfrage dagegen ab – vielleicht weil „ihnen der Vorwurf des Antiamerikanismus, den ihnen ein solches Engagement eingebracht hätte, die Karrierechancen in Amerika verhageln würde“, wie Del Naja vermutet. Noel Gallagher, der Oasis-Gitarrist, machte sich sogar über die Unterschriftenaktion lustig: In einer hämischen Pressemitteilung ließ er verbreiten: „Ich verstehe diese Popstars nicht, die eine demokratische Debatte einfordern. […] Ich spiele Gitarre in einer Band, und wir sind richtig gut. […] Niemand wird jemals auf den Spacken von Blur hören.“

Inzwischen aber gewinnt die Antikriegsbewegung auch in England immer mehr Zulauf. So nahmen Albarn und 3-D an den regelmäßigen Demonstrationen vor dem House of Parliament teil – die letzte fand ausgerechnet an Del Najas Geburtstag statt. Außerdem arbeiten die beiden an einer neuen Anzeigenserie, die in den kommenden Wochen im britischen NME erscheinen soll. Bono und Sting haben Konkurrenz bekommen.