BOLIVIEN: DAS KRISENMANAGEMENT VERSCHLIMMERT DIE LAGE
: Keine Hoffnung ohne Aufstand

14 Tote und an die hundert Verletzte bei Demonstrationen in Bolivien – eine derart blutige Bilanz sozialer Auseinandersetzungen ist in diesem Land mit traditionell starken Gewerkschaften und Volksbewegungen nicht alltäglich. Zudem hatte sich die erste Amtszeit von Präsident Sánchez de Losadas durch ein hohes Maß an Konsensbereitschaft ausgezeichnet. Inzwischen hat sich das Klima verschärft, vom Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre profitieren viel zu wenige. Und Argentinien hat gezeigt, wie schnell orthodoxer Neoliberalismus in den Kollaps münden kann.

Bolivianische Ökonomen rechnen vor, dass die extreme Armut bei unveränderter Verteilungspolitik selbst bei einem Wirtschaftswachstum von vier Prozent jährlich erst in 130 Jahren ausgerottet sein wird. So lange wollen die Betroffenen nicht warten. Auf dem Land ist die Lage verzweifelt. In manchen Gegenden ist Koka das einzige rentable Produkt, und gerade das wird auf Geheiß der USA schonungslos bekämpft, ohne dass den Bauern brauchbare Alternativen geboten würden.

Wie stark das Protestpotenzial angewachsen ist, zeigte sich schon im vergangenen Jahr, als bei den Wahlen das Linksbündnis des Koka-Bauernführers Evo Morales nur um einen Hauch hinter dem Wahlsieger und jetzigen Präsidenten landete. Dass die Einführung einer Lohnsteuer, die auch die kleinen Einkommen empfindlich schmälern würde, im derzeitigen aufgeheizten Klima auf Widerstand stoßen würde, hätte sich die Regierung ausrechnen können.

Mit Nostalgie erinnern sich die älteren Menschen an die so genannte Revolution von 1952, die das damals noch feudal organisierte Land modernisierte und einen umfassenden Entwicklungsplan entwarf. Davon ist heute keine Rede mehr. Jede Regierung macht Krisenmanagement, überlässt den Sozialbereich möglichst den Nichtregierungsorganisationen und ist – mangels eigener langfristiger Entwicklungspläne – den Austeritätsprogrammen des IWF ausgeliefert. Wenn diese dann über Nacht durchgedrückt werden, kommt der Aufstand. RALF LEONHARD