: Gnom tanzt Walzer
Die einen empören sich über Künstler, die sich auf dem Boden wälzen, die anderen nervt das Pathos hehren Strebens. Die Eurythmie steht vor der Frage: Modernisierung, ja oder nie?
von JUDITH LUIG
Ein Mädchen kurvt über den Platz. Seine Arme hat es leicht vom Körper weggestreckt. Völlig begeistert vom eigenen Schwung, jauchzt es seine Freude laut heraus. „Das ist eine typische A-Stimmung“, sagt Alexander Seeger. „Eine Geste, die sich öffnet.“ Das Mädchen im Bergpark von Kassel-Wilhelmshöhe macht Eurythmie. Ohne es zu wissen.
Eurythmie ist eine anthroposophische Kunst, die den „schönen Rhythmus“ der Natur mit Bewegungen des eigenen Körpers nachempfindet. Der Tänzer strebt nach einer Harmonie mit dem Wesen der Schöpfung, nach einem Einklang mit dem Kosmos. Vorausgesetzt, in diesem Kosmos sind keine anderen Eurythmisten, denn mit denen liegt er zur Zeit im Clinch.
Die Szene ist in der Krise, und gelegentlich kommt es zum Knall. Zum Beispiel durch Eurythmisten wie Alexander Seeger. Im August 2001 hat er sich bei einer Aufführung über den Bühnenboden gewälzt. Ausgerechnet über den des Goetheanums, des Zentrums der Anthroposophen. Im modernen Tanz wäre das ein Stilmittel unter vielen, in der Eurythmie hat die Turnübung einen Skandal ausgelöst. „Die Lüge hat von der Großen Bühne des Goetheanums Besitz ergreifen können“, „Blasphemie“ – so die entgeisterten Kommentare, nachzulesen in der Festivalzeitung. Manche vergaßen ganz den Zweck der Zusammenkunft, nämlich den gemeinsamen Weg aus einer Zeit der Verwirrung: „Hatte leider keine Tomate zur Hand.“
Bei Seegers Aufführung knallten die Türen hinter den empörten Traditionalisten zu, und die begeisterten Modernisierer blieben unter sich. Der schöne Rhythmus hat seitdem keinen Einklang mehr. Mit der Künstlergruppe Four Pieces tanzt Seeger sich weiter frei, während sein ehemaliger Lehrer Werner Barford, heute Leiter der Sektion für Redende und Musizierende Künste in Goetheanum, sich wieder auf die Tradition besinnen möchte. Seegers expressive Turnübung hat Bewegung in die junge Kunst gebracht. Die Agentur Performing Arts Services Basel will in den nächsten Wochen ein Video auf den Markt bringen, in dem Aufführungen der letzten anderthalb Jahre sowie Interviews mit Künstlern und Zuschauern Richtungen und Standorte der Eurythmie dokumentieren.
Denn die Probleme der Bewegungskunst sind nicht nur ein ästhetischer Streit: Seit 1995 ist die Zahl der Studenten von 1.500 auf zirka 260 weltweit gesunken, für freie Künstlergruppen fehlt das Geld, die Aufführungen werden spärlich besucht. Eine Veröffentlichung der Flensburger Hefte, einer anthroposophischen Reihe, stellt in ihrem Titel die Sinnfrage: „Eurythmie – Aufbruch oder Ende einer jungen Kunst?“
Für Waldorfschüler gehören die notorischen Schläppchen und Schleier zum Stundenplan. Wer sich jedoch in der Szene nicht auskennt, den mag der seltsam ruhige, meist getragene Bewegunstanz irritieren. Eine Aufführung in der Freien Bühnengemeinschaft Eurythmie Berlin: Durch die Falten des Vorhangs schiebt sich eine Schleiergestalt. Der Körper ist in einem weiten Gewand verborgen, das Gesicht zur Maske erstarrt. Die Augen krallen sich in eine Ferne, scheinbar ohne Objekt. Lautlos setzt die Ouvertüre ein. Es beginnt ein kreisförmiges Gleiten durch den Raum. Die Gestalt wiegt sich auf und ab, streckt sich, wagt sich vor und schreckt zurück. Jede der Bewegungen steht im Spannungsfeld der nächsten. Nichts ist abrupt, nichts erschlafft.
Die Gewichtigkeit des Auftritts, die Schwere des Ausdrucks, die noch in der luftigsten Geste liegt, scheint etwas zu besagen. Hier geht es um etwas. Arme beginnen rastlos durch die Luft zu tanzen. Der Blick folgt den Gesten, die Gestalt wird unscharf. Eine neue Dimension entsteht. Dann akzentuieren die Arme das Ende der Ouvertüre. „Schlääfteinlied“, schnarrt es lang gezogen von der Bühnenseite. Der Schleier umweht rhythmisch die Gestalt, die durch die Verse tanzt. Dann ist es still. Das Wort verklingt, der Schleier sinkt, die Figur verlässt den Raum.
Eurythmie ist bewegt vom Rhythmus des Gedichtes, sie ist getragen von der Stimme, der Melodie. Doch gerade erstarrt die Bewegungskunst. Sie kämpft mit einem Problem, das die klassischen Künste längst hinter sich haben. Modernisierer fühlen sich von der Tradition eingeengt und erstickt, Traditionalisten befürchten eine Verwässerung durch Annäherung an andere, nichtanthroposophische Künste.
Das beeinflusst auch die Ausbildung: Schüler und Studenten fühlen sich beengt durch Walle-walle-Schleier, verschreckt durch strenge Ernsthaftigkeit und sakrales Druidengehabe in weißen Priesterkitteln. Vor ein paar Jahren hat eine Studentengruppe sogar ein Selbststudium organisiert, um der Enge der Ausbildung zu entkommen.
Auch Alexander Seeger wehrt sich gegen Kleidervorschriften und starre Regeln. Beim Spaziergang durch die Kasseler Hügellandschaft wirkt der Mann im Kurzmantel jedoch eigentlich ganz harmlos und gar nicht wie das Enfant terrible der Szene. Was hat er getan? Seeger lächelt und bleibt stehen. „So sah das aus!“, sagt er und beginnt, seinen drahtigen Körper zu krümmen. Sein Kopf versinkt zwischen Wellen, die von seinen Schultern aus über seine Arme rollen. Unruhig wiegt er sich hin und her. Vorbeikeuchende Ausflügler blicken etwas befremdet. „Ein kauziger Gnom, der Walzer tanzen will“, erklärt Seeger. Ein Teil seiner skandalträchtigen Aufführung im Goetheanum, die einmal weniger das Erhabene, sondern auch mal etwas Niederes zeigte.
Seeger hält nicht viel von Konventionen. Nicht im Park und schon gar nicht in der Kunst. Mit seinen Bewegungen tastet er sich weg vom eindeutig übersetzbaren, erlernten Zeichen hinein in die künstlerische Freiheit. Ein Prinzip, das eigentlich jeder Eurythmist verfolgt. Nur Seeger vielleicht radikaler als andere. Eurythmie wird durch ihn zu einer sinnlichen Körpersprache, die das tut, was die Kunst traditionell für sich in Anspruch nimmt: Sie zeigt Seele.
Der Bruch mit der Tradition, mit den „alten Tanten“ stößt gleichermaßen auf Euphorie wie auf Entsetzen. Seeger wird als Erneuerer begrüßt, aber er hat auch Kritiker. Ob sein Solo das Beuys-Zitat: „Der Scheißkünstler als Arschloch, Verbrecher und impotenter Hund“ thematisiere, habe man ihn in Dornach gefragt. „So was hier“, ruft Seeger und schwenkt ein mitgebrachtes Heft mit hehren lila Lichtgestalten auf dem Titel, die in I-Form himmelwärts streben, „das macht mich impotent.“
Eurythmie, sagt er, bedeute Verstehen. „Wenn ich immer nur das Schöne, Erhabene zeige, aber Hässliches und Wiedersprüche verneine, dann werde ich unserer Welt nicht gerecht.“ Drastisch machen das die jüngsten weltpolitischen Entwicklungen klar. Der Mensch brauche die Kunst als eine Brücke zu den Kräften, die unsere Zeit und unsere Gesellschaft freisetzen. Aber um ein Heute zu zeigen, müsse der Eurythmist auch seine individuellen Bewegungen finden. Er dürfe nicht eingeschnürt in ein Korsett des Festgelegten sein.
Ganz ähnlich sieht es Andrea Heidekorn. Ihre Zeit als Dozentin hat sie glücklich hinter sich gebracht. Jetzt arbeitet die freie Eurythmistin konsequent an einer Weiterentwicklung ihrer Kunst. Für sie bedeutet das: „Der ganze Graecismus und der Jugendstil müssen endlich mal weg.“ Die brauche man nicht. Genausowenig wie „heilig verletzliche Gefühle“. Von einem Ende der Bewegungskunst will sie hingegen nichts wissen. „Der Eurythmie geht es gut, es ist die Ausbildung, die in der Krise steckt.“
Andrea Heidekorn hat einen Weg für sich gefunden. Wie viele andere bringt sie die Bewegungskunst in staatliche Schulen und Kindergärten. Oder sie setzt bei Tagungsbegleitungen die Themen einzelner Vorträge gestalterisch um und stellt Konflikte und Fragestellungen im bewegten Tanz dar. Neben der Heileurythmie (siehe Randspalte) tut sich somit ein neues anwendungsbezogenes Betätigungsfeld auf.
Seeger ist also nicht alleine in seinem Angriff auf die hehre Harmonie. Doch neue Wege zu gehen kostet Kraft. „Manchmal habe ich einfach keine Lust mehr“, entfährt es Alexander Seeger. Fast am Gipfel, unter dem gewaltigen Herkulesstandbild angekommen, sieht er auf einmal gar nicht mehr nach A-Stimmung, sondern vielmehr nach einem skeptischen E aus. Etwas ratlos blickt er auf das Laub am Boden. Aber dann erinnert sich Seeger wieder an einen Spruch auf einer Karte, die er vor ein paar Tagen gelesen hat: „Widerstand ist das Geheimnis des Glücks“.
JUDITH LUIG, 28, freie Autorin aus Berlin, freut sich an den zwei offenen, ruhigen U in ihrem Namen, kennt aber auch den Stress zweier strebender I
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