Langes Elend

In den Industrieländern werden die Menschen immer größer. Doch es ist nicht nur von Vorteil, seine Mitmenschen zu überragen

von JUTTA HEESS

Eigentlich hat sie es gut. Wo sich andere Menschen mühsam strecken müssen, kann Renate Pump locker aufrecht stehen. Beim Staubwischen auf dem Wohnzimmerschrank zum Beispiel. Oder in der Buchhandlung, wenn das gewünschte Buch mal wieder im obersten Regal steht. Und im Kino braucht die 57-Jährige nicht zu befürchten, dass der Kopf eines Vordermanns ihr die Sicht versperrt. Denn mit ihren 1,95 Metern überragt die Berlinerin den Großteil ihrer Umwelt und ihrer Mitmenschen.

Das waren aber schon fast alle Vorteile des Großseins. „Mit 1,95 Metern hat man als Frau etwas leicht Außerirdisches“, sagt Renate Pump. In ihrer Wohnung im Berliner Stadtteil Kreuzberg erzählt sie von ihrem Leben als Lange. Von den Leuten, die sich nach ihr umdrehen und mit dem Finger auf sie zeigen. Und von den Problemen, die sie bereits als Kind mit ihren Maßen hatte. Denn nicht nur ihren Mitschülern hätte sie auf den Kopf spucken können – auch ihre Lehrerinnen ließ sie bald unter sich. „Sprüche wie ‚Na, langer Lulatsch?‘ haben oft sehr wehgetan“, erinnert sie sich.

Noch nicht einmal schick anziehen konnte sich das Mädchen, das das „lange Elend“ war. Die Standardgarderobe von Renate Pump bestand aus Rock und Pullover – weil Hosen immer zu kurz und Blusen in ihrer Größe gar nicht erst zu finden waren. „Als junges Mädchen sah ich aus wie meine eigene Mutter.“ Sie schüttelt den Kopf: „Für große Frauen gab es damals überhaupt keine passenden Klamotten.“

Noch schlimmer als eine Hochwasserhose waren jedoch zu enge Schuhe. Renate Pump hat heute Schuhgröße 49. Und musste schon als Jugendliche immer Herrenschuhe tragen. Frustrierend sei das gewesen. „In den Fünfzigerjahren kannte man ja noch keine lässigen Turnschuhe, sondern nur hässliche Herrenlederlatschen.“ Zur Konfirmation bekam Renate Pump dann ihren ersten Damenschuh, eine Sonderanfertigung von einer Firma aus Frankfurt. Aber wer auf großem Fuß lebt, braucht auch das nötige Geld, um sich so etwas leisten zu können. Heute fährt sie bis an die holländische Grenze, um sich bei einem Übergrößenanbieter Schuhe zu kaufen. Über zweihundert Euro muss sie für ein passendes Paar bezahlen – beim Schuster in Kreuzberg allerdings würde sie achthundert Euro für die Schuhe hinlegen. Und Kleidung von der Stange kauft die Buchhalterin schon lange nicht mehr. „Es gibt zwar Mode für dicke, aber nur wenig für lange Frauen.“ Sie holt den Katalog eines der wenigen Berliner Geschäfte, die Überlängen führen, hervor, blättert ihn durch und schüttelt erneut den Kopf: „Was da drin ist, ist alles andere als schick.“

Das Leiden der Langen ist hier aber noch lange nicht zu Ende. Renate Pump wird nicht müde, die Beschwerden aufzuzählen: zu kurze Betten, zu flache Autos, zu kleine Fahrräder, zu niedrige Markisen beim Wochenmarkt, zu wenig Beinfreiheit im Flugzeug. Dann der kaputte Rücken durch das ständige Ducken. Und wegen notwendiger Sonderanfertigungen stets finanzielle Sorgen. Probleme, die nur dann wirklich zu lösen wären, wenn sich die Welt mitsamt ihren Produkten in Zukunft nach dem Gardemaß der XXL-Menschen richten würde.

Wobei dann die Normalgrößen wiederum das Nachsehen hätten. Und die ganz Kleinen erst recht, die sicher ähnliche körpergrößenbedingte Schwierigkeiten haben wie die Langen. Dass es so nicht sein kann, sieht auch Renate Pump ein. Dennoch wünscht sie sich, dass etwas mehr auf die Bedürfnisse der Großen eingegangen würde.

Darum ist sie Mitglied in einem Verein: Der Klub langer Menschen (KLM) will Großgewachsenen den Alltag leichter machen. Will dafür sorgen, dass die Langen nicht immer zu kurz kommen. In dem Verein können Frauen ab 1,80 Meter und Männer ab 1,90 Meter Mitglied werden und sich annähernd auf Augenhöhe begegnen. Neben Freizeitveranstaltungen bietet der Klub Hilfestellungen für ein langes Leben. Da ist zum Beispiel der „Lange Katalog“ – eine Aufstellung vieler Geschäfte und Firmen, die Kleider und Schuhe, aber auch Möbel, Fahrräder und Autos für große Menschen herstellen.

Der KLM hat deutschlandweit 21 Verbände, in Berlin gibt es 235 Mitglieder – über die Hälfte von ihnen ist weiblich. Gemeinsam mit einer jüngeren Frau ist Renate Pump die Größte im KLM Berlin. „Lange Frauen haben es viel schwerer als lange Männer“, erklärt sie den Damenüberschuss im Verein. Besonders was die Partnerwahl betreffe. „Wir sind zwar kein Eheanbahnungsinstitut, aber bei vielen gibt es natürlich schon den Hintergedanken, hier einen Freund zu finden.“ Ihre eigene Motivation, dem KLM beizutreten, war dieselbe. Als junge Frau sei sie zwar gerne mit Freundinnen zum Tanzen gegangen, aber statt aufgefordert zu werden, habe sie regelmäßig Spott und Hohn geerntet. „Die Jungs haben einander zugeraunt: ‚Du kriegst ein Bier, wenn du die Lange aufforderst.‘ “ In der Tat, Komplimente hören sich anders an.

Hoffnung schöpfte Renate Pump, als sie vom KLM erfuhr. Mittlerweile ist sie seit vierzig Jahren Mitglied. Ihren Ehemann hat Renate Pump allerdings nicht im Klub langer Menschen kennen gelernt, sondern auf ganz normalem Weg, als sie 1964 von Kiel nach Berlin in ein Wohnheim zog. Werner Pump hätte auch gar nicht in den KLM eintreten können – mit 1,83 Metern ist er zwölf Zentimeter kleiner als seine Frau.

Dass man als derart ungleiches Paar erst recht die Blicke auf sich zieht – auch davon kann Renate Pump ausführlich berichten. „Es ist nicht immer leicht, damit umzugehen, wenn uns die Leute im Supermarkt anstarren“, sagt sie. Mittlerweile kontert ihr Mann aber gerne mal auf offensives Gegaffe, indem er die gedachte Frage der Mitmenschen beantwortet: „Sie ist 1,95 Meter.“

„Es gehört sich eben nicht, dass die Frau größer ist als der Mann, unsere Ordnung sagt, es muss andersherum sein“, stellt Renate Pump fest. Sind die Größenverhältnisse auf den Kopf gestellt, ist das öffentliche Interesse groß. Bereits mehrmals waren Renate Pump und ihr Mann zu Gast in Fernsehsendungen. Irgendwann wurde es ihnen aber zu dumm, und sie lehnten alle Anfragen von vornherein ab. „Ich bin nun mal 1,95 Meter groß, und fertig.“

Wieso sie so lang geworden ist, kann sich Renate Pump nicht erklären. Ihre Eltern sind beide 1,70 Meter groß, ihre Geschwister alle kleiner als sie. Ihr ältester Sohn hingegen bringt es auf 2,05 Meter. Er habe keine Probleme mit dem Großsein. Aber dann sagt Renate Pump etwas, was deutlicher als alle aufgezählten Unannehmlichkeiten beweist, wie sehr sie unter ihrer Überlänge gelitten hat. Sie blickt nachdenklich auf ihre langen Finger: „Ganz ehrlich, ich bin froh, dass ich keine Tochter bekommen habe.“ Zwar gebe es Möglichkeiten, bei Bedarf das Wachstum mit Hormonen zu stoppen. „Doch diese Methoden sind sehr umstritten. So etwas will man seinem Kind ersparen.“

Auf die Frage, ob das Langsein tatsächlich nur Nachteile mit sich gebracht habe, antwortet Renate Pump nach kurzem Überlegen: „Na ja, beim Basketball war ich schon manchmal froh, dass ich so groß bin.“ Obwohl ihr als langer Spielerin eher ein Foul gepfiffen worden sei als den Kleinen. Der große Nachteil – er scheint sich immer wieder ins Leben zu schleichen.

Wenn sie einen Wunsch frei hätte, was würde sie gerne an sich ändern? „Die Füße“, antwortet Renate Pump, jetzt ohne Zögern. „Manchmal denke ich, ob der Arzt nicht einfach meine Zehen abschneiden könnte. Aber man muss sich eben den Tatsachen beugen.“ Sie lacht. Und fügt hinzu: „Im wahrsten Sinn des Wortes.“

JUTTA HEESS, 31, lebt als freie Journalistin in Berlin. Ihre Mutter prognostizierte ihr als Kleinkind mit Hilfe einer Tabelle aus einer Elternzeitschrift eine Körperlänge von 2,02 Metern. Auf die fehlenden 23 Zentimeter warten beide heute noch