Das Leben, jaja, das Leben

Dem Vater zuschauen, wie er alt wird: Tristan Wolskis „Diaries and Drawings“ in der Galerie Ulf Wetzka. Seinem Werk haftet etwas von Schildermalerei und Straßenkunst an und deren jedermann verständlicher Bildsprache

Nackte Frauen zum Beispiel machen ihm Vergnügen. Und Vergnügen hat er viel mit ihnen, denn er sieht sie überall, nicht nur dort, wo sie direkt vor ihm stehen. Er entdeckt sie beim Blick über seinen New Yorker Hinterhof, in den gegenüberliegenden Fenstern und beobachtet sie mit größter Ausdauer bei der Körperpflege. Auf jedem Postkartenständer bekommt er sie mit, irgendwo am Straßenrand, in den Ferien auf Ibiza. Er folgt ihnen mit seinen Blicken auch, wenn sie als werbende barbusige Schöne auf die Seite eines Busses gedruckt sind und durch die Straßen Londons kurven. Mit starken Konturen hält sein Stift sie dort fest, hebt sie heraus aus der kleinteilig erzählten Straßenszene. Und so werden sie auch für den Betrachter der gezeichneten Tagebücher von Tristan Wolski zu einem der Leitmotive, die der Blick immer wieder findet.

Und doch sind das längst nicht die Momente der größten Intimität. Die entstehen in den Bildern der letzten Jahre eher dort, wo Wolskis gezeichnetes Ich eben noch in einem kleinen Auto durch eine Landschaft wie aus einer Kinderzeichnung rollte und nun zu Besuch bei seinem Vater angekommen ist, einem alten und schwach gewordenen Mann. Er hilft ihm beim Waschen in der Badewanne, er füttert ihn und er sieht ihn einfach immer wieder an. Betrachtet und zeichnet den inzwischen an Alzheimer erkrankten und an einen Rollstuhl gebundenen Vater lang und eindringlich, studiert die Gerätschaften, von denen der Vater und andere Pflegefälle in dessen Altenheim in Montreal abhängig sind. Und gibt ihnen mit dieser Zuwendung etwas von jener Ressource Aufmerksamkeit wieder, unter deren Verknappung auch gerade die Kranken oder Alten leiden.

Die gezeichneten Tagebücher des in Polen geborenen Kosmopoliten Tristan Wolski entdeckte Ulf Wetzka vor etwas mehr als zehn Jahren. Ihn hat gepackt, wie viel Leben und Lebensweisheit in dessen auf den ersten Blick so leicht und spielerisch anmutenden Tagebuchzeichnungen steckt und er zeigt deshalb jetzt nicht nur zum dritten Mal eine Soloshow von Wolski, sondern vermittelte ihm auch die Teilnahme an Gruppenausstellungen in Polen oder London.

Die sind nun inzwischen selbst Teil von Wolskis gesammelten Bildnotizen geworden. Man sieht ihn nicht nur beim Ausstellungsaufbau, sondern auch, wie er durch Museen läuft und Ausstellungsbesucher beim Betrachten der Bilder zeichnet: Zwei Punks stehen vor Bacon und so, wie Wolski das festhält, gibt es eine intuitive Verbindung zwischen Bacons gewrungenen Körpern und ihren gepiercten Gesichtern. In einer anderen London-Szene tanzen die Reihenhäuser wie Girlanden um den betrunken seinen Weg nicht mehr findenden Wolski herum. Und auch das wiederholt sich über die Jahre, Bilder vom Rausch. Doch selten wird das Leben der Boheme so unprätentiös ausgebreitet wie bei Wolski.

Als Kind lebte Tristan Wolski, 1955 geboren, mit seiner Familie eine Zeit lang in afrikanischen Staaten, bevor sie weiter nach Kanada zogen. Etwas von Schildermalerei und Straßenkunst, die nach einer jedermann verständlichen Bildsprache suchen muss, haftet seinem Werk genauso an wie das Offenlegen der Inspiration, die er bei anderen Künstlern findet. Die Papiere, auf die er zeichnet und zu langen Leporellos aneinanderklebt, sind oft auch Dokument seines umtriebigen Lebens, von allen möglichen Notizblöcken, oft mit eingeklebten Schnipsel.

Die kleinen Formate sind oft noch einmal unterteilt, wo es gilt, das Erzähltempo zu beschleunigen, um beispielsweise von einem Autounfall zu erzählen. Sichtbar werden in jeder Ausstellung immer nur Abschnitte der langen aufgerollten Erinnerungsspeicher. Die Techniken wechseln, Kugelschreiber, Bleistift, Aquarell, die Sprachen wechseln, Polnisch, Englisch, Französisch, gleich aber bleibt sich das Gefühl der Unmittelbarkeit und der direkten Teilhabe, egal wie lange zurück die Aufzeichnungen liegen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Tristan Wolski, „Diaries and Drawings“, Galerie Ulf Wetzka, Auguststr. 20, Di– Sa 12– 18 Uhr, bis 15. November