Chance für neue Sinnstiftung

Der 50. Jahrestag zum Gedenken an den Aufstand am 17. Juni 1953 in Ostberlin wirft seine Schatten voraus. Die Bundeszentrale für politische Bildung wirft interessante Themen in den Gedenk-Ring

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Manchmal erinnern Gedenktage an Gewitter. Entsprechend ihrer Bedeutung kündigen sie sich an mit einem Donnern in der Luft, blitzen auf – und verschwinden wieder. Der 50. Jahrestag zum Arbeiteraufstand in Ostberlin und in der DDR am 17. Juni 1953 folgt diesem Szenario. Schon heute liegen neue wissenschaftliche Bücher auf dem Tisch. Der Gedenk- und Rezeptionsrummel fährt – Guido Knopp sei Dank – langsam an und wird mit Sicherheit am 17. Juni 2003 seinen Höhepunkt erreichen. „Es wird so viel los sein“, prophezeit der Historiker Christoph Kleßmann, „dass wir am Ende wieder froh sind, wenn es vorbei ist.“

Kleßmann vom Zentrum für Zeithistorische Forschungen (ZZF) in Potsdam und andere Mitglieder der Zunft denken aber nicht nur ironisch über das Thema und den Gedenktag. Obwohl der 17. Juni in der Wissenschaft ausführlich bearbeitet und von Politikern gewürdigt worden sei, beinhalte der 50. Jahrestag „auch die Chance zu neuer Sinnstiftung“, sagt Kleßmann: etwa durch Untersuchungen zum Alltag im Umfeld des Datums, durch Aufspüren der „Geschichten von unten“, durch neue Fragen zur Rolle der Ost- oder Westintegration beider deutscher Staaten sowie die Frage zur Auswirkung des Streiks und seiner Niederschlagung auf die friedliche Revolution 1989. „Worin bestehen die Parallelen und Unterschiede zwischen 1953 und dem Herbst 89?“, fragt etwa Stefan Wolle, Historiker und Publizist.

Als eine Art Agenda für den Gebrauch des Gedenktags zum 17. Juni 1953 wollte darum die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) ihre Veranstaltung in Potsdam im Vorfeld zu den Feierlichkeiten verstanden wissen, zu der Historiker, Zeitzeugen und Journalisten eingeladen waren. Nicht die „17.-Juni-Legenden“, so BpB-Präsident Thomas Krüger, sondern „Wahrheiten“ und neue Erkenntnisse über das „zivilcouragierte Handeln der Aufständischen“ sollten darum im Mittelpunkt des Seminars und in seiner Fortsetzung in der öffentlichen Diskussion stehen – ein hoher Anspruch angesichts der vielen abgearbeiteten Geschichtsbilder, Interpretationen und auch „Beerdigungen“, wurde doch der Feiertag nach der Vereinigung schlichtweg abgeschafft.

Dass es dennoch „weiße Flecken“ im vielschichtigen Mosaik des 17. Juni und seiner Rezeption gibt, ließ Kleßmann durchblicken. Es gäbe zwar einen „Konsens“ über die Ereignisse, aber „unterschiedliche Akzentuierungen“ über die Ursachen des Arbeiteraufstandes in der Stalinallee 1953. So seien etwa aus Sicht des DDR-Regimes die Normenerhöhungen nötig gewesen angesichts der geringen Produktivität in den Anfangsjahren der DDR. Die Auswirkungen des Streiks der Bauleute reichten bis „in die Mittelschicht“ der Gesellschaft. Schließlich traumatisierte der „Schock über die ungesteuerte Revolution“ die DDR-Oberen dahingehend, dass Eliten ausgetauscht und Repressionen bis in die Funktionärsebene hinein wirksam wurden.

Das quasi „paranoide Verhältnis“ der Regimes zu den 17.-Juni-Ereignissen, so Wolle, belegen auch irrwitzige Geschichten, die der Aufarbeitung harren. Weil angeblich der Aufstand auf einem Ausflugsdampfer vorbereitet wurde, prüfte die Stasi in den Folgejahren die Fahrgastlisten aller Ausflugsdampfer am 17. Juni. Ganze Betriebs- und Kleingärtnergruppen zwischen Köpenick und Pankow gerieten so in die sinnlose Rasterfahndung der Mielke-Sicherheitsbehörde.

Die Sorge der Demonstranten 1989 vor aufziehenden Panzern wie 1953 einerseits sowie die Angst des Politbüros vor der „permanenten Ausuferung unkontrollierbarer Zustände“ (Wolle) andererseits stellen schließlich die Frage nach den Anknüpfungspunkten, die beiden historischen Ereignisse zu vergleichen. Der Weg zur „friedlichen Revolution von 1989“, so Wolle, habe bewusst die „53er-Zustände“ vermieden: keine Streiks, Organisation sowie die Gründung von Parteien, Umwelt- und kirchlichen Gruppen, die Erarbeitung einer Programmatik sowie die Herstellung von Öffentlichkeit. Die „demokratischen Formen“ hätten den „Wandlitzer Greisen“ auch die Handhabe einer gewalttätigen Reaktion aus der Hand genommen. 1953 war das Beispiel des Umsturzversuchs, 1989 sein Gelingen gewesen.

„1954 saßen wir mit unseren Geschichten in der ersten Reihe“, erinnerte einmal ein Aktivist des Aufstandes von 1953. „Dann rückten wir in die 12. Reihe, schließlich wollte man nichts mehr von uns hören.“ Am 17. Juni 2003 wird das nicht so sein – und, so die Hoffnung der BpB, doch ein wenig anders.