In den Schluchten Manhattans

Die Ablehnung eines drohenden Irakkriegs hat die gesellschaftliche Mitte der USA erreicht. Die Proteste drängen die Bush-Administration politisch in die Defensive

„Amerika sollte auf die Welt hören und den Inspektoren mehr Zeit geben“

WASHINGTON taz ■ Mehrere hunderttausend Amerikaner haben am Samstag in den USA gegen einen Irakkrieg protestiert. Es waren die mächtigsten Friedensdemonstrationen in den USA seit dem Vietnamkrieg. Allein in New York gingen zwischen 100.000 und 250.000 Menschen auf die Straße, unter ihnen namhafte Autoren, Musiker und Schauspieler. Weitere Großkundgebungen fanden in Chicago, Philadelphia und Detroit statt. In Los Angeles versammelten sich 25.000 Menschen.

In New York appellierte der südafrikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu an die US-Regierung, nicht militärisch gegen Bagdad vorzugehen. „Friede! Friede! Friede!“, rief er beschwörend bei der Eröffnung der New Yorker Veranstaltung in die Häuserschluchten von Manhatten. „Amerika sollte auf den Rest der Welt hören und den UN-Inspektoren mehr Zeit geben.“ Vor Beginn der Demonstration hatte Tutu einen ökumenischen Gottesdienst gehalten und dann zusammen mit dem Sänger Harry Belafonte eine Botschaft an UN-Generalsekretär Kofi Annan übergeben.

Es waren nicht die üblichen verdächtigen Demonstranten wie Studenten, Globalisierungskritiker und linke Splittergruppen, die sich mehrere Kilometer auf der First Avenue drängten. Es war ein bunter gemischter Friedensmarsch und ein Zeichen, dass der Protest die gesellschaftliche Mitte erreicht hat.

Am Vorabend der New Yorker Veranstaltung kam es noch zu einem Eklat. Ursprünglich sollte die Demonstration gegenüber dem Hauptsitz der Vereinten Nationen stattfinden. Ein New Yorker Gericht hatte jedoch einen Marsch durch ganz Manhattan und eine Kundgebung direkt vor dem UN-Gebäude am East River untersagt – ein Schritt, der von amerikanischen Bürgerrechtlern heftig kritisiert und von der zuständigen Richterin mit der angespannten Sicherheitssituation begründet wurde.

Der federführende Veranstalter „United for Peace“, ein Dachverband von rund 300 Organisationen, verlegte daraufhin die Bühne um einige Straßenblöcke, jedoch mit Blick auf den Gebäudekomplex der UNO.

Dort hatte am vergangenen Freitag US-Außenminister Colin Powell eine seiner bittersten Erfahrungen als Diplomat machen müssen, als er sich einer überraschend breiten Ablehnungsfront im Sicherheitsrat gegen einen Irakkrieg gegenüber sah.

Die Massenproteste zu Hause und im Ausland drängen die US-Regierung nun noch weiter in die Defensive, und Präsident George W. Bush befindet sich plötzlich in einer unangenehmen, jedoch selbst herbeigeführten Zwickmühle. Entweder er verschiebt den Waffengang, gibt den Inspektoren mehr Zeit und Saddam Hussein eine Gnadenfrist; oder er macht seine Ankündigung wahr, den Irak ohne UN-Mandat zu okkupieren. Im ersten Fall riskiert Bush seine Glaubwürdigkeit, im anderen droht ihm internationale Isolation.  MICHAEL STRECK