Süß ist‘s, für den Frieden zu sterben

Bei „The Rape of Lucretia“ in der Concordia erweist sich das Schlimmste als unvermeidlich. Ganz wie es sich gehört

Musik braucht Klischees. Ohne Stereotype könnte sie nichts zuordnen, nichts darstellen, nichts mitteilen. Benjamin Britten (1913-1976) beherrschte die Klaviatur der Gemeinplätze wie kaum ein anderer: Deshalb ist er der bedeutendste britische Musikdramatiker seit George Frederic Handel. Und deshalb falten die drei Frauen in „The Rape of Lucretia“ weißes Leinen, wickeln Wolle und singen so terzlastige Partien, während sich Vergewaltiger Tarquinius Sextus durch dräuende Rhythmik und eine kleinschrittige Melodie zu erkennen gibt.

Fredo Majer, Regisseur der Bremer Aufführung jener Kammeroper, hat es verstanden, den Versuchungen der Musik zu widersagen. Denn Britten überlässt nichts dem Zufall. Anders wäre einer durch Jahrhunderte der Instrumentalisierung gegangenen Fabel auch kaum beizukommen gewesen. Die Geschichte von der züchtigen Patrizierfrau, die zur Zeit der Etruskerkönige vom Prinzen Tarquinius Sextus vergewaltigt wird, ist immerhin der Gründungsmythos der Republik Rom. Indem sie sich, den Frevel gestehend, erdolcht, gibt sie dem Volksaufstand einen Anlass: fort also mit der Fremdherrschaft, Rom den Römern. Und, setzt Britten hinzu, ein Ende dem Krieg. Oder wenigstens einen Sinn dem Leid. „Lucretia“ wurde 1946 uraufgeführt.

Heldentum und Geschlechterkampf, historische und ironische Distanz, christologische Überhöhung des Opfers, Idylle und Notzucht, alles, wirklich alles ist auskomponiert, bis zur Geste, bis zum Wimpernschlag. Reizt das nicht zum Widerspruch, zum Stückzertrümmern? Oder sollte man’s, im Gegenteil, theatralisch genauso weit treiben, ja übertrumpfen?

Majer hat sich anders entschieden. Skizzen bleiben die Szenen, Symbole werden sacht bedeutet. Ganz am Ende, den Dolch in der Brust, den letzten subtil ausgehorchten, im Piano so warmen Ton gesungen, stürzt die geschändete Tugend vornüber in den quadratischen Bade- oder Goldfischteich zwischen strengen Säulen. Das Wasser färbt sich rot. Katharina von Bülows Kleid aber bleibt porentief rein– Immaculata noch im Suizid.

Für sich genommen wäre das fast noch kein Theater. Und ist gerade deshalb genug, ja genau richtig – weil alles Drama sich hier in der Musik erfüllt. Diese Regie hat dienenden Charakter.

Nicht aber sklavischen. So gehört Selbstbewusstsein dazu, auch einmal Rücken zum Publikum singen zu lassen. Doch der kecke Einfall keineswegs bloß optischer Selbstzweck oder einfach nur kluge, da Doppelbesetzungen erlaubende, Bühnenökonomie.

Statt das Klangbild zu verunklaren, differenziert er es. Und deutet es aus: In die Tiefe des Raumes projiziert er die stetig mitschwingende historische Relevanz des Stoffs. Das Unterfangen, sich so völlig in die Musik zu werfen, gelingt, weil diese in den Händen Florian Ludwigs so gut aufgehoben ist. Sänger wie Instrumentalisten zeigen sich glänzend aufgelegt. Das gilt nicht nur für Jeffrey Stewart, der

als Male Chorus, sprich: Erzähler brilliert. Aus „Augen, die Christi Tränen geweint“ beobachtet er das Geschehen, erläutert es und will, aller historischen Distanz zum Trotz, doch eingreifend das Schlimmste verhindern. In dieser Rolle kann Stewart die Stärken seines geschliffenen Organs genüsslich präsentieren. Eindrucksvoll auch der virile Bariton George Stevens. Lustvoll akzentuiert er die Härten der Tarquinius-Partie – um umso zärtlicher auch ihre Lyrismen erstrahlen zu lassen. Dass die Vokalisten buchstäblich auch blind miteinander harmonieren, beweisen sie direkt im Anschluss an die drastische Vergewaltigungsszene. Alle Lichter aus, radikales Dunkel: Die allmählich sich zum Zorn verhärtende A-cappella-Klage erschallt im Schwarz. Erschütternd, bedrohlich – und in jeder Hinsicht überzeugend.

Benno Schirrmeister

The Rape of Lucretia, Concordia Nächste Aufführungen: 19. und 21. Februar, 1., 6. und 8. März, jeweils 20 UhrFoto: Landsberg