Zwischentöne hören

Berlin bildet die ersten Gemeindedolmetscher aus. Diese sollen Migranten eine bessere ärztliche Behandlung ermöglichen. Langfristig fehlt das Geld

von MATTHIAS BRAUN

„Nicht abgucken“, ruft Lehrerin Lala Rasulowa in den Unterrichtsraum. „Wir tauschen nur Meinungen aus“, gibt Bajouk Hussein zurück und redet weiter mit seinem Banknachbarn. Er und seine 27 Mitschüler sitzen vor einem Lückentext. Lautstark kämpfen die Türken, Polen und Kroaten an diesem Vormittag in Kreuzberg mit der deutschen Grammatik.

Doch der chaotische Schein trügt. Die Schüler hier wissen, was sie wollen. Viele der zwischen 22 und 51 Jahre alten Kursteilnehmer gehören zur zweiten oder dritten Immigrantengeneration. Sie drücken zum nicht zum ersten Mal die Schulbank. Vor diesem Kurs waren sie Sozialhilfeempfänger. Jetzt lassen sie sich zu Gemeindedolmetschern ausbilden.

Rund eine Million Euro hat die Ausländerbeauftragte Barbara John herangeschafft, um so gleich zwei Probleme Berliner Immigranten zu lösen. Mit dem Geld bildet der Verein „Gesundheit Berlin“ knapp zwei Jahre lang 60 Muttersprachler zu Dolmetschern aus. Damit soll den Kursteilnehmern die Chance gegeben werden, eigene Euros zu verdienen. Die Dolmetscher werden dringend gebraucht.

„Was das Verstehenwollen von Migranten betrifft, ist Deutschland eine Wüste“, sagt Barbara John. Denn Migranten haben in Deutschland zwar Anrecht auf einen Übersetzer, wenn sie polizeilich vernommen werden. Wer aber einen Arzt besucht und kein Deutsch spricht, dem helfen nur Zufallsübersetzer. Meist sind das Putzhilfen in den Krankenhäusern oder Familienangehörige.

„Wegen der Missverständnisse können Ärzte oft nur unzureichende Diagnosen erstellen“, bestätigt Matthias David. Der Gynäkologe hat durch Befragung von 262 ausländischen Charité-Besuchern nachgewiesen, dass Migranten sich wegen der Sprachbarriere unzureichend behandelt fühlen. Eine türkischsprachige Patientin, die er im letzten Jahr zu ihrem Klinikbesuch befragte, fasste es so zusammen: „Die Ärztin hat mir alles sehr gut erklärt, aber ich habe nichts verstanden.“

Gemeindedolmetscher sollen dieses Defizit beheben. Spätestens ab November können Ärzte über eine zentrale Rufnummer professionelle Übersetzer anfordern, wenn sie ihre Patienten nicht verstehen. „Wichtig ist, dass unsere Mitarbeiter nicht nur sprachlich, sondern auch medizinisch geschult sind“, sagt Fabian Jain, der das Ausbildungsprojekt bei „Gesundheit Berlin“ koordiniert. Außerdem werde in jeder Kultur verschieden über Krankheiten gesprochen. „Unsere Übersetzer bringen Verständnis für die Zwischentöne mit, die gerade bei Arztgesprächen wichtig sind“, sagt Jain.

Solche Zwischentöne können Ärzte in Hannover schon seit zehn Jahren hören. Deutschlands älteste Gemeindedolmetscher-Agentur arbeitet dort seit 1991. „Unser Vorbild sind die niederländischen Tolken-Zentralen“, sagt Gründer Ramasan Salman. Er kann inzwischen über 200 Dolmetscher verfügen. „Unsere Arbeit berücksichtigt die Migrantenperspektive besser, als dies amtliche Dolmetscher tun“, so Salman. Inzwischen wüssten die Krankenhäuser auch, dass seine Dolmetscher bezahlt werden müssten. Zwischen 25 und 40 Euro verdient ein Gemeindedolmetscher in einer Stunde.

Woher auf lange Sicht das Geld für die Berliner Gemeindedolmetscher kommen soll, das ist noch nicht geklärt. Barbara John hat vorerst nur Absichtserklärungen parat: „Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Mittel für den Dienst in den Haushalt eingestellt werden.“ Der Krankenhausbetreiber Vivantes, der sich „strategischer Partner“ des Berliner Dolmetscherdienstes nennen darf, will den KursteilnehmerInnen immerhin ein Praktikum ermöglichen. „Aber Geld für Übersetzer wird es von uns nicht geben“, sagt Andrea Grebe, bei Vivantes zuständig für das Qualitätsmanagement.

Die Kursteilnehmer stört die ungeklärte Perspektive noch nicht. „Ich muss schon immer für meine Familie übersetzen. Wenn ich die Ausbildung hier erfolgreich abschließe, werde ich irgendwie damit Geld verdienen können“, hofft die 25-jährige Türkin Defne Aslan.