An der Gegenwart gespiegelte Vergangenheit

Wer nostalgische Gefühle für ein Irland „vor der EU“ erwartet, ist bei ihm an der falschen Adresse: Heute Abend liest Delmot Bolger aus seinem jüngsten und gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Die Reise nach Valparaiso“, in dem er die Perspektive eines Rückkehrers einnimmt

„Dublin is doubling“, bemerkte einmal James Joyce. Bis heute lesen irische Autoren an Dublin die spezifischen Spiegelbilder der gesamten Insel ab. An vorderster Stelle die Auseinandersetzung mit den Kolonisatoren, den Engländern – „das Volk, das wir so lieben zu hassen und nie zu imitieren aufhören“, wie Richard Kearney es ausdrückt. Auch der Autor und Herausgeber Dermot Bolger (Die Versuchung, Finbars Hotel) ordnet seinen jüngsten Roman, Die Reise nach Valparaiso, als eine solche Doppelung an.

In Formulierungen wie „es enstand ein Gedränge, das in Irland noch als Schlange galt“ hat Bolger ein Sich-Messen an England tief eingelassen. Doch als Spiegelung interessiert ihn etwas anderes: Ein Mann – vor einem Identitätswechsel hieß er Brendan Brogan – kehrt nach Irland zurück, hinter sich ein zehnjähriges Exil in Europa. Am Dublin von heute brechen sich nun die Ereignisse seiner Kindheit und Jugend.

Die Stadt erlebt er, nach seiner langen Abwesenheit „doppelt fremd“, als Boomtown Europas. Er sieht neuen Reichtum und neue Armut, die Folgen des Bauwahns und einen neuen und gewalttätigen Rassismus, der sich gegen Einwanderer aus Afrika und Osteuropa richtet. Geschickt hat Bolger Gegenwart und Erinnerungen gegeneinander montiert. Doch wer hier nostalgische Gefühle für ein Irland „vor der EU“ erwartet, sucht vergebens. An Brendans Vergangenheit gibt es nichts zu vermissen. Nach dem frühen Tod der Mutter vom Vater und dessen missgünstiger neuer Frau in den Schuppen verbannt, vom Stiefbruder getrennt und von Klassenkameraden verprügelt, hat er sich zum Einsiedler entwickelt. Ohne Selbstvertrauen, der Wettsucht erlegen und hoch verschuldet nutzt er später die Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen. Ein verunglückter Zug, in den er wider Erwarten nicht eingestiegen war, liefert ihm den Vorwand.

Doch Brendan kehrt nicht nur zu seinen ganz privaten Erinnerungen zurück. Er glaubt, sein vor drei Wochen gestorbener Vater sei ermordet worden. Der Schuppen, in den er als Junge verbannt worden war, war zugleich der Ort, an dem sein Vater die Unterlagen seines mafiösen Chefs aufbewahrte. Derart zum Mitwisser der Machenschaften einer ganzen Generation von irischen Politikern und Unternehmern geworden, sinnt Brendan nun auf Rache.

Aus einer Ich-Perspektive, die innergesellschaftliche Hierarchien punktgenau beobachtet, lässt Bolger derart fast ein halbes irisches Jahrhundert neu entstehen. Und je mehr Fäden zwischen Gestern und Heute sich knüpfen lassen, desto mehr gerät Die Reise nach Valparaiso zum Thriller. Eine vielstimmigere Sprache und etwas mehr galliger Humor hätten dem Text dabei allerdings manchmal gut getan.

Christiane Müller-Lobeck

Lesung (den deutschen Part liest Peter Lohmeyer) heute, 20 Uhr, Das Schiff (Anleger Holzbrücke/Nikolaifleet) Dermot Bolger, Die Reise nach Valparaiso, Rotbuch Verlag, Hamburg 2003, 444 S., 23 Euro