peter ahrens über Provinz
: Mitropa in Limbabwe

Mit Niederländern redet man nicht über Fußball oder Wohnwagen, sondern über den Ostharz

Hier gibt es keinen Fernsehapparat. Stattdessen gibt es Jan. Jan ist Niederländer, und an die Niederlande habe ich nur verschwommene Kindheitserinnerungen, an einen Sommerurlaub auf Terschelling. Wir waren noch ganz kleine Kinder, und eines der Bilder, das mir von damals noch am deutlichsten im Kopf ist, ist das eines Mannes, der am Strand herumlief und vor uns Kindern die Badehose herunterzog. Danach waren die Niederlande für mich erst einmal gestorben, es schien ein böses Land zu sein, das zudem vorrangig danach trachtete, Helmut Schön den Fußballweltmeister-Titel streitig zu machen. Als Gerd Müller das Siegtor geschossen hat, habe ich mich in meinem Erwin-Kremers-Kindertrikot noch aufrichtig für die deutsche Mannschaft gefreut. Das ging damals noch: Es gab noch keinen Heribert Fassbender, der ausländische Schiedsrichter und am liebsten alle Holländer gleich mit in die Pampa schicken wollte. Es waren halt die unschuldigen 70er-Jahre in Paderborn.

Mittlerweile bin ich zur Versöhnung mit den Niederlanden bereit. Was soll ich dafür tun? Mein Versöhnungsexperte Johannes Rau rät: aufeinander zugehen, miteinander reden. Also: die Sprache lernen. Ort des Sprachkurses ist ein abgeschiedenes Kastell, Wassergräben ringsum, irgendwo in der agrarischen grünen Wüste bei Venlo in der Provinz Limburg, die von den Einheimischen selbst Limbambwe genannt wird, weil sie von allem Weltläufigen so weit entfernt ist. Da, wo sich idyllisch Glashausfabik an Glashausfabrik schmiegt, in der abends ambitionierte Wissenschaftler noch einmal über die Tomaten drübergehen und als Abfallprodukt Spielshow-Kandidaten-Homunkuli für Endemol züchten. Neun Deutsche lernen Niederländisch, neun Niederländer lernen parallel Deutsch. Hier gibt es keinen Fernsehapparat, dafür Sprachkassetten.

Es sind an diesem Kolumnenplatz von einer Kollegin mal die Mühen der Ebene beschrieben worden, die das Erlernen des Italienischen mit sich bringt. Das Niederländische ist im Gegensatz dazu eine fließende, leichtfüßige Sprache, wie ein lustig sprudelnder Quell, alles Harte, Sperrige ist ihr fremd. „Ik hou verschrikelijk veel van jou“ klingt im Vergleich zu „Ti amo“ wie die reine Poesie. Mit anderen Worten: Der Wille zur Versöhnung wird auf eine harte Probe gestellt, wenn man Worte wie „bezienswardigheden“ richtig auszusprechen gezwungen wird. Ich wäre womöglich rasch in meine alte Hasshaltung zurückgefallen, hätte fröhlich angestimmt: „Schade, Holland, ihr seid nicht dabei“ und wohlfeile Wohnwagen-Witze ersonnen. Wenn ich Jan nicht getroffen hätte.

Warum Jan noch Deutsch lernen wollte, ist mir allerdings nicht ganz klar geworden. Er sprach beinahe ohne Akzent und erklärte mir gleich am zweiten Tag des Sprachkursus den Unterschied zwischen den Kompetenzen der Regierungspräsidien und des Landtages im deutschen Politiksystem. Seit den frühen 80er-Jahren fährt er jedes Jahr nach Deutschland zum Urlauben, und das tat er von jeher nicht im Sauerland, wie man denken sollte, sondern im Ostharz und in Thüringen. Jan ist der größte DDR-Experte westlich von Jena und Auerstedt.

Beim Abendessen kamen wir ins Gespräch, und Jan erzählte mir, dass er zu Urlaubsbeginn sich ein Haus sucht, aus dem offensichtlich noch Braunkohle durch den Schornstein verfeuert wird: „Dann stellen ich und meine Familie uns vor das Haus, atmen tief ein, nehmen eine Nase, und die Welt ist wieder in Ordnung.“ Über 30 Jahre hat er DDR-Devotionalien gesammelt. Er weiß, dass das Bahnhofsklo von Dessau noch mit Lysol desinfiziert wird, dass es zwischen Dresden und Leipzig einen Autobahnabschnitt gab, den die Vopos nie überwacht haben und jeder dort Vollgas fuhr, und wer mit dem Robur durch die Gegend gefahren ist. Die Orden, alte Sparwasser-Fotos und Mitropa-Speisekarten stapeln sich bei ihm bis unters Dach.

Einmal im Jahr trifft er sich mit niederländischen Freunden, erzählt er, und sie spielen einen SED-Parteitag nach. Genau geregelt mit der Länge des Applauses, die Reden ziehen sich über Stunden. Anschließend gibt es Broiler. Alle seien mit großem Ernst bei der Sache.

Ich habe Jans Herz gewonnen, als ich ihn am nächsten Tag beim Frühstück mit Herr Staatsratsvorsitzender angeredet habe. Das habe alles nichts damit zu tun, dass er sich die Mauer zurückwünsche, sagt er. Die Teilung habe er immer als furchtbares Unrecht empfunden. Die DDR wäre nur eine Welt gewesen, die ihn so an seine eigene Kindheit in den 50ern erinnere. Als die Welt noch überschaubar und gemütlich war.

Am letzten Abend haben wir gemeinsam Genever getrunken und „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ gesungen. Jan hat sich verstohlen eine Träne aus dem Auge gewischt.

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